Polizeiarbeit realitätsnah

KRIMINALCOMIC Pierre Dragon und Frederik Peeters – ein wirklicher Bulle und ein verdammt guter Zeichner. Zusammen haben sie „RG“ entwickelt

VON CHRISTOPH HAAS

Wem gehört der große, weiße Renault? Vor einer Viertelstunde hat er sich in die Parklücke geschoben, aber niemand steigt aus. Pierre Dragon, der in einem anderen Auto auf der Lauer sitzt, gerät ins Grübeln. Ist eine rivalisierende Bande unterwegs, die den Menschenschleppern, hinter denen die Pariser Flics her sind, den Garaus machen will?

Ein Griff zum Mobiltelefon macht klar: In dem Lieferwagen sitzen Beamte von der Sitte. Zwischen deren Chef und Dragon kommt es ein paar Tage später zum Krach. Zwei Ressorts, ein Fall, Kompetenzgerangel und Drohungen – aber Dragon hat die besseren Karten: Weiß er doch, dass sein dreister Kollege erpressbar ist, weil er mal etwas mit einer minderjährigen Prostituierten laufen hatte.

Pierre Dragon ist keine erfundene Gestalt. Er trägt zwar einen anderen Namen, arbeitet aber tatsächlich seit Jahren für die gerne als „RG“ abgekürzten „Renseignements Généraux“, die geheimdienstliche Abteilung der Nationalen Polizei Frankreichs. Dass aus Dragons beruflichen Erfahrungen Comics entstehen, verdankt sich seiner Begegnung mit dem Zeichner Frederik Peeters, der in Genf lebt.

Peeters ist vor 10 Jahren mit „Blaue Pillen“ bekannt geworden, einer autobiografischen Graphic Novel, in der er sich mit der Aids-Erkrankung seiner Lebensgefährtin auseinandersetzt. Nach diesem Start war ein Wechsel ins Genre-Fach nicht unbedingt zu erwarten. Umso erstaunlicher ist, mit welcher Bravour Peeters diese Aufgabe bewältigt.

Auch wenn offen bleibt, in welchem Verhältnis Wahres und Erfundenes in „RG“ genau stehen: Dass Polizeiarbeit hier wesentlich realitätsnaher als sonst üblich geschildert wird, ist unverkennbar. Weder geht es um internationale Top-Terroristen noch um irre Serienmörder, die auf ausgefallene Tötungsmethoden stehen. Dragon und seine Kollegen waten vielmehr durch den Alltagssumpf des organisierten Verbrechens. Im ersten Band von „RG“ jagen sie vermeintliche arabische Terrroristen, im zweiten nun skrupellose thailändische Geschäftsmänner, die ihre Landsleute für einen Hungerlohn in illegalen Textilbetrieben schuften zu lassen. Action gibt es kaum zu sehen, stattdessen das mühselige Klein-Klein, das einem Ermittlungserfolg vorangeht: lange Beschattungen, Gespräche und Verhöre, Papierkram. Und am Ende steht unausgesprochen die Frage, ob der ganze Aufwand sich lohnt.

Ebenso wichtig wie die professionelle ist in „RG“ die menschliche Ebene des Geschehens. Einer der Mitarbeiter Dragons ist dauerhaft schlecht drauf; schließlich bricht aus ihm heraus, dass seine Mutter seit Wochen im Sterben liegt. Ganz ungewöhnlich für einen Crime-Comic ist die Untersuchungsrichterin, die Dragon kennen lernt, als er um ein Rechtshilfeersuchen bittet. Sie ist keck und klug, aber keine ganz junge Frau mehr, auch nicht besonders hübsch. Sie schläft mit Dragon, die beiden verlieben sich ineinander, und dann erwähnt sie auf einem Spaziergang beiläufig, dass sie sich vorstellen könne, von ihm ein Kind zu bekommen. Da ist Dragon entsetzt und stürzt unter einem fadenscheinigen Vorwand davon.

Außerordentlich gelungen ist „RG“ auch in visueller Hinsicht. Die lebhafte Kolorierung entspricht perfekt den verschiedensten Orten und Stimmungen. Peeters’ Zeichnungen konzentrieren sich immer wieder auf die Gesichter seiner Figuren, deren Mimik er ungewöhnlich plastisch und differenziert wiederzugeben versteht. Mit den üblichen Genre-Comics lässt „RG“ sich kaum vergleichen. Wenn überhaupt Verbindungslinien zu ziehen sind, dann zu desillusionierten Polizeifilmen wie Robert Aldrichs „Straßen der Nacht“ oder Richard Fleischers „Polizeirevier Los Angeles Ost“, die im Hollywood der frühen Siebziger entstanden sind. Es ist eine kleine Gesellschaft, der dieser Comic angehört – aber nicht die schlechteste.

Pierre Dragon (Text)/Frederik Peeters (Text und Zeichnungen): „RG – Verdeckter Einsatz in Paris. Band 2: Bangkok–Belleville“. Aus dem Französischen von Kai Wilksen. Carlsen Verlag, Hamburg 2011. 112 Seiten, 16,90 Euro