Avantgarde und Ghetto-Spaziergänge

KULTURSOMMER Das Warschauer Singer-Festival präsentiert sich in diesem Jahr zum ersten Mal mit stark erweitertem Programm und begibt sich auf die Spuren des jüdischen Warschaus

„Tel Aviv zieht nach Warschau“, so lockte der Strandclub La Playa an der Weichsel. Unter Palmen mitten in der polnischen Hauptstadt? Die Gäste des 8. Jüdischen Kulturfestivals, das nach dem Schriftsteller Isaac Bashevis Singer benannt ist, waren skeptisch.

Doch die Mutigen, die sich in diesem regennassen Sommer an den Weichselstrand wagten, wurden mit Sonne, fetten Beats aus Israel und einem herrlichen Blick auf die Altstadt belohnt. Großformatige Israelfotos und Spezialitäten aus dem Cafe + Deli Tel-Aviv machten die Illusion perfekt. In dieser Form präsentiert sich das Singerfestival zum ersten Mal. Bislang beschränkte es sich auf Schtetl-Folklore aus der Vorkriegszeit, Tanz- und Jiddisch-Workshops.

Seit 2002 pulsiert jedes Jahr im August jüdisches Leben rund um den Grzybowski-Platz und die fast verfallene Prozna-Straße, dem einstigen Zentrum des jüdischen Warschaus. Es war eine Reminiszenz an die Zeit vor der Schoah. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs lebten in Polens Hauptstadt rund 350.000 Juden. Sie stellten ein Drittel der Einwohner. Warschau war Europas jüdische Kulturhauptstadt. Dutzende jüdischer Bühnen und Theater gaben den Ton an, Literaturzeitschriften erschienen in jiddischer und polnischer Sprache. Die jüdische Musik- und Kunstszene konnte sich mit der von New York messen, wo die weltweit größte Diaspora lebte. Das alles zerstörten die Nazis während der Okkupation Polens 1939 bis 1945. Auch Warschau wurde fast bis auf die Grundmauern geschliffen. Erhalten sind nur noch wenige Gebäude auf der rechten Weichselseite.

Da in diesem Jahr zwei Häuser der Prozna-Straße restauriert werden, machte Festivalleiterin Golda Tencer aus der Not eine Tugend und erweiterte so Gelände und Programm. Zwischen 200 Veranstaltungen können die Besucher in diesem Jahr wählen. Darunter ist zum ersten Mal eine Klezmer-Oper, außerdem Theater-Gastspiele unter dem Titel „Meister der jüdischen Szene“ sowie Avantgarde aus St. Petersburg und New York.

In der Chlodna-Straße, über die während der Okkupation die berüchtigte Holzbrücke vom kleinen ins große Ghetto führte, stellen jüdische Künstler aus aller Welt neueste Werke aus. Besonders interessant sind die erstmals angebotenen Spaziergänge auf den Spuren des „jüdischen Warschaus“.

Zum festen Bestandteil des Festivals ist auch das Österreichische Kulturforum auf der Prozna-Straße geworden, das in diesem Jahr die österreichische Band Grooveheadz eingeladen hat, um den Warschauern mit Balkan-Funk einzuheizen, und den Bestseller-Autoren Frederic Morton alias Fritz Mandelbaum. Der heute 87-Jährige konnte als Kind zusammen mit den Eltern kurz nach der Kristallnacht aus Wien nach England und schließlich in die USA fliehen. In Manhattan wurde er zunächst Bäcker, dann Schriftsteller und Nachbar des jiddisch schreibenden Isaac Bashevis Singer. In New York, so erzählte Morton den Polen, hätten er und Singer zusammen Tauben gefüttert.

Ähnlich wie Singer, dessen Schaffen in der Fremde sich um die verlorene Heimat in Polen drehte, schreibt auch Morton vorwiegend über seine Heimat – Österreich und Wien. Der internationale Durchbruch gelang ihm mit dem Buch „Die Rothschilds“, das in über 20 Sprachen übersetzt wurde und in mehreren Ländern auf der Bestsellerliste stand. „Näher am Herzen lag mir allerdings immer der Roman ‚Die Ewigkeitsgasse‘ über meine Familie im Wien der 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhunderts“, bekannte er. GABRIELE LESSER

www.festiwalsingera.pl