Das große Vergessen

CRIME SCENE Perfekt ausgedacht: Watsons Thriller „Ich. Darf. Nicht. Schlafen“

Wie schreibt man einen guten Thriller? Ist doch eigentlich ganz einfach: Man überlegt sich eine Ausgangssituation, die einen einzigen langen Spannungsbogen schafft. Einen, der es bewirkt, dass man immer weiter lesen muss, weil die Informationshäppchen so allmählich gestreut werden, wie mit einem automatisch dosierenden Fischfutterapparat …

So ungefähr muss er gedacht haben, der heute 40-jährige Steve Watson, als er dabei war, mit Hilfe eines Creative-Writing-Kurses sein Leben zu ändern. Immerhin hatte er vorher bereits um die zwanzig Romane angefangen und verworfen. Und man muss sagen: Chapeau, der Mann hat es wirklich gefunden, das Rezept für den perfekten Thriller. „Ich. Darf. Nicht. Schlafen“ ist ein großer Wurf.

Er hat zum einen die perfekte Ausgangssituation, denn die Protagonistin lebt zu dem Zeitpunkt, da wir sie treffen, in einem Zustand vollkommenen Nichtwissens. Eine Frau wacht morgens auf. Neben ihr im Bett liegt ein Mann, den sie nicht kennt. Das kann vorkommen. Doch als sie ins Bad geht, blickt ihr aus dem Spiegel auch eine Frau entgegen, die sie nicht kennt. Sie sieht ihr selbst zwar ähnlich, ist jedoch mindestens zwanzig Jahre älter. Auch ihr Körper ist ebenfalls mindestens zwanzig Jahre zu alt. Der mittlerweile erwachte Mann klärt darüber auf, dass er ihr langjähriger Ehemann sei und sie bei einem Unfall ihr Gedächtnis verloren habe. Ihr Name sei Christine.

Zur perfekten Ausgangssituation kommt die perfekte Durchführung. Später am Tag wird Christine einen Mann treffen, der sagt, er sei ihr Arzt, Neurologe, und der ihr ein Tagebuch gibt, das sie selbst geschrieben hat. Darin hat sie über die letzten Wochen fast täglich festgehalten, was sie über sich selbst erfahren hat. Es ersetzt mit fortschreitender Lektüre ihr Gedächtnis. Eine Erinnerung aber sagt ihr ganz deutlich, dass es keineswegs ein Unfall war, durch den sie ihr Gedächtnis verlor.

Doch bis Christine so weit kommt, muss sie noch viel durchmachen. Täglich das gealterte Frauengesicht im Spiegel erblicken, täglich von neuem ihr Tagebuch lesen, an dessen Existenz sie ihr Arzt täglich erinnert. Und täglich muss sie ein wenig mehr dazuschreiben. Auch wenn das Ende vielleicht nicht ganz so überraschend ausfällt, so hat uns S. J. Watson jedenfalls ziemlich lange in Atem gehalten. Einem so kühn ausgedachten Plot mag man da auch nicht Konstruiertheit vorwerfen. Es ist, was es ist: ein perfekt ausgedachter Thriller. KATHARINA GRANZIN

S. J. Watson: „Ich. Darf. Nicht. Schlafen“. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Scherz Verlag, Frankfurt a. M. 2011. 397 S., 14,95 Euro