Neues Buch von Wolfgang Herrndorf: Wehe dem, der in der Wüste liegt

Der Autor von "Tschick" dreht ein Pathosthema der Moderne ins Trashige und erwischt seine Leser existenziell. "Sand" macht Spaß und regt auch noch zum Nachdenken an.

Der nächste Sandsturm kommt bestimmt: ein Landrover auf dem Weg durch die Sahara, im Süden Marokkos. Bild: reuters

Man sieht den Sandsturm kommen. Zunächst ist da nur etwas Eigenartiges am Horizont, eine "kleine, gelbe, schmutzige Wolke, die sich langsam ausdehnte". Schon wenige Zeilen später geht es los. "Der Wind nahm rasch an Stärke zu, der Himmel färbte sich dunkelbraun. Schließlich wurde es einen Moment windstill.

Dann bekam das Auto einen Schlag, der es fast von der Piste schob, Polidorio machte eine Vollbremsung. Ein Sandstrahlgebläse war auf seine Windschutzscheibe gerichtet, er konnte kaum noch die Spitze der Kühlerhaube erkennen. Es war ein Prasseln und Knistern, als ob der Wagen in Flammen stünde." Das wars. Ein paar Zeilen weiter wird lakonisch beschrieben, wie dieser Polidorio den Wagen wieder aus dem Sand buddelt.

Wolfgang Herrndorfs neuer Roman "Sand" kann einem nach einigem Hineinkämpfen viel Spaß machen und zu denken geben. Wer sich deshalb vornimmt, eine sympathetische Besprechung zu schreiben, kann an dieser kleinen Szene gleich zwei Dinge festmachen. Er kann auf die Beschreibungskunst dieses Autors verweisen. Ein Sandsturm in einem Roman, der in der Sahara spielt - und Wolfgang Herrndorf macht daraus eben kein kunstvoll zusammengeschraubtes Kabinettstück. Stattdessen hat die Szene, wie oft in diesem Roman, etwas Hingetuschtes, etwas aus dem Ärmel Geschütteltes. Und zugleich etwas ungeheuer Eindrucksvolles.

Wolfgang Herrndorf: "Sand". Rowohlt. Berlin Verlag, Berlin 2011, 478 Seiten, 19,95 Euro

http://www.wolfgang-herrndorf.de/

Suche nach Identität

Festmachen lässt sich daran auch das Grundthema. Denn so sandgestrahlt wie die Windschutzscheibe ist bald auch das Gedächtnis der Hauptfigur. "Sand" schildert, ins Tragikomische gedreht, die Geschichte eines Gedächtnisverlustes und der folgenden Suche nach der eigenen Identität. Damit ordnet sich der neue Roman sogar ganz gut in die Abfolge der bisherigen Bücher dieses Autors ein.

Die Figuren des 2002 erschienenen Debüts "In Plüschgewittern" wirkten wie verlorenes Strandgut innerhalb der Identitätsspielchen des Nullerjahre-Berlins. Und Maik und Andrej Tschichatschow, die beiden jugendlichen Ausreißer aus dem großen Erfolg von 2010 "Tschick", waren eh noch zu jung, um Klarheit darüber zu haben, was sie mit sich und ihrem Leben anfangen sollen; Hauptsache, erst mal weg von den Lebensentwürfen der angeblich Erwachsenen. Wer er ist, wusste bei Wolfgang Herrndorf bislang noch niemand so ganz genau.

Aber die Umstände, in denen diese Ich-Suche (großes Pathosthema der literarischen Moderne!) durchgespielt wird, ändern sich von Buch zu Buch gewaltig. In "Sand" findet sich der Leser in einem Marokko nachempfundenen Land wieder. Es ist 1972, Nachrichten vom palästinensischen Anschlag auf das israelische Olympiateam in München spielen eine Rolle.

Es gibt ein Thriller- und Agentensetting. Im Hintergrund muss ein Technologietransfer verhindert werden, der zum Bau einer Atombombe führen könnte; und im Vordergrund ist die Identitätssuche des Helden daran gekoppelt, für ein paar Verbrecher eine Mine wiederzubeschaffen, wobei er - ein herrlich schräger Herrndorfscher Handlungsdreh, von dem es in dem Buch einige gibt - noch nicht einmal weiß, ob damit ein Bergwerk, eine Sprengladung oder die Mine eines Bleistiftes oder Kugelschreibers gemeint ist.

Der Hauptunterschied zu "Tschick" ist aber: "Sand" ist kein nettes Buch, ganz und gar nicht. Es gibt hier keine rührenden Details, keine im Autorekorder dudelnde Richard-Clayderman-Kassette und keine Bleistiftzeichnung für die Angehimmelte. Vor allem gibt es nicht die Erfahrung, die Maik formulierte: "Seit ich klein war, hatte mein Vater mir beigebracht, dass die Welt schlecht ist. Die Welt ist schlecht, und der Mensch ist auch schlecht. [...] Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war." Das ist in "Sand" gründlich anders.

Sadistische Befreiungen

Als Erstes wird der an Amnesie leidende Held von zwei gut gelaunten Hippies ausgeraubt. Und auch sonst widerfährt ihm ausschließlich Schlechtes. Selbst dass er sich aus allen Misslichkeiten immer wieder befreien kann - einmal etwa von einem Dachboden mit zu kurzer Leiter, einmal aus der Situation, in vollkommener Dunkelheit in einem Matschtümpel stehend an einen Eisenpfahl angekettet zu sein -, verheißt ihm nichts Gutes. Diese Befreiungen malt Herrndorf mit einer einerseits slapstickhaften, andererseits nahezu sadistischen Gründlichkeit aus. Und dann schickt er seinen Helden wie ein böser Gott in die nächste Misere. "Sand" ist ein Roman der schlimmstmöglichen Ausgänge.

Es wäre nun aber auch ganz falsch, einen genretypischen Actionroman zu erwarten. Eher fühlt man sich beim Lesen wie in einem Film der Coen-Brüder. Wie dort sind auch hier alle Szenen geradezu emphatisch bewusst durchgearbeitet, ohne daraus ein großes Kunstding zu machen. Man achte etwa auf die Szene, in der Michelle, eine Nebenfigur, ihre Tarotkarten legt, während sich der Held und Helen, eine Zeit lang seine Verbündete, am Rande von Michelles Wahrnehmung über ihr weiteres Vorgehen streiten.

Das Zentrale der Szene ist ganz an den Rand gedrängt. Außerdem sind, so wie bei den Coens, beide Seiten des Tragikomischen bis aufs Äußerste gespannt. Das Komische: Man muss beim Lesen immer wieder lauthals lachen, das Gespräch des Helden mit dem Psychiater Dr. Cockcroft verdient in den Kanon der Hochkomik aufgenommen zu werden. Genauso beim Tragischen. Aber hier darf man als Rezensent nicht alles verraten. Jedenfalls spielt der Zufall, der in diesem sinnlosen Kosmos und dieser transzendentalen Obdachlosigkeit, in der wir nun einmal leben, herrscht, die alles überragende Rolle.

Und so wie einem bei den Coens oft unklar ist, ob man sich nun in einem Comic oder in einem tiefsinnigen Film über die letzten Dinge befindet, so weiß man das bei diesem Roman auch nicht. "Weiß einer, wie es ist, die Nacht in der Wüste zu erleben, allein?" So beginnt eine weitere großartige Szene. Und dann gelingt etwas, was eigentlich nur in Kitsch münden und schiefgehen kann - die Beschreibung kosmologischer Einsamkeit.

Menschlicher Schicksalskampf

"Er sah das Blinken ferner Sonnen, die nichts waren als Stäubchen im All, und zu wissen, dass er selbst mit dem Rücken auf einem solchen Stäubchen lag und nur durch ein paar Körner und Kiesel, durch eine winzige Materiezusammenballung getrennt vom ewigen, schwerelosen Nichts auf der anderen Seite …" Inmitten der stellenweise trashigen, stellenweise auch albernen Oberfläche dieses Buches können einen solche Stellen ganz kalt und existenziell erwischen.

Es lohnt sich, beim Lesen parallel immer mal wieder einen Blick in den Blog "Arbeit und Struktur" zu werfen, den Wolfgang Herrndorf seit gut eineinhalb Jahren führt, seitdem bei ihm ein lebensbedrohender Gehirntumor diagnostiziert wurde. Man bekommt einen Eindruck davon, wie besessen dieser Autor an diesem Roman arbeitete. Man bekommt zudem Hinweise auf die Entstehung, etwa dass "Sand" von Anfang an als nihilistisches Gegenstück zum menschenfreundlichen Roman "Tschick" konzipiert war, als Beschreibung eines menschlichen Schicksalskampfes inmitten der Gleichgültigkeit der Wüste.

Vor allem aber ist dieser Blog auch selbst ein Gegenstück zu diesem Roman. Viele Einträge berichten von einer klaren Einsicht in die eigene Endlichkeit, sie beschreiben die Symptome der Krankheit, die Medikation, das Schwanken zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Aber über allem ist "Arbeit und Struktur" doch auch ein Bericht von der Schönheit des Lebens. Vom Fußballspielen mit Freunden ist viel die Rede, überhaupt von Freundschaften, vom Schwimmen in Seen und im Meer.

Natürlich kann "Sand" als Buch allein stehen. Aber man muss wohl "Tschick", "Sand" und diesen Blog zusammennehmen, um zu sehen, wie gut dieser Schriftsteller Wolfgang Herrndorf wirklich ist und darüber hinaus auch, was der Mensch ist: Er reitet auf einem Stück kosmischen Staubes durch das Weltall, er kann sich dabei ziemlich seltsame Dinge ausdenken, er kämpft bis zuletzt um sein Leben und um seine Identität, und er kann bei alledem auch noch eine ziemlich schöne Zeit haben, selbst wenn man nur Richard Clayderman im Kassettenrekorder hat.

Was ist gegen den Menschen schon ein Sandsturm?

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.