Nicht jeder Schlag sitzt

INDEPENDENT Das Filmfestival „Unknown Pleasures“ zeigt Independentkino jenseits der Vorstadtklischees

Independent meint hier nicht den leblosen Manierismus skurriler Suburbia-Geschichten von Sundance

VON THOMAS GROH

Der Boxsport lebt in seinen Mythen. Überliefert werden sie in abgewetzten Fotografien, Plakaten legendärer Kämpfe und der Ikonografie des Boxerfilms. Behutsam tastet die Kamera zu Beginn von Frederick Wisemans Dokumentarfilm „Boxing Gym“ die Innenwände von Richard Lords Boxhalle in Austin, Texas, ab, die ein Palimpsest dieses Mythenmaterials wirken: wenig blanke Wand, abwellende Poster, wuchtige Plakatzeichnungen im groben Strich, auch Robert de Niro als „wilder Stier“ ist zu sehen sowie eine antike Darstellung eines Boxkampfs, als müsste sich der Sport seiner kulturhistorischen Tiefendimension überhaupt versichern.

Diese Patina, die große Gesten kontrastieren, was „Boxing Gym“ hochkonzentriert in den Blick nimmt: schweißgebadete Menschen beim Training in rustikalem Ambiente, auf alten Matten und vor gut geflickten Boxsäcken – Menschen im Kampf mit dem Material, zuweilen gegen sich selbst, selten gegeneinander. Nicht jeder Schlag sitzt, oft mangelt es an Haltung: Professionelles Interesse am Sport haben die wenigsten, den meisten geht es nur um Fitness, viele sind übergewichtig, manche alt. Zugleich ist die Trainingshalle ein Ort, der soziale Höhenunterschiede scheint’s spielend einebnet: Frauen und Kinder trainieren neben bulligen Kerlen, Rechtsanwälte neben sozial abgedrängten Einwanderern, auch Computerspielmeister Richard Garriott, 2008 einer der ersten Weltraumtouristen, trainiert verschwitzt mit seinen Sportsfreunden auf Augenhöhe.

Zuvor drehte Frederick Wiseman „La Danse“, einen Film über die strapaziöse Arbeit im Ballett der Pariser Oper. Der Distanz zwischen Paris und Austin, zwischen alter und neuer Welt, zwischen filigraner Hochkultur und proletarischem Körperkult zum Trotz bilden beide Filme eine Art Geschwisterpaar, unter anderem, weil Wiseman immer wieder auf die Fußarbeit der Boxer fokussiert. Beide Filme befassen sich mit unterschiedlichen Formen selbst verordneter Körperzurichtung, womit sie einen eigenen Themenkomplex im Werk des Altmeisters bilden, der seit den 60er Jahren spröde, aber enorm sehenswerte Dokumentarfilme über soziale, meist maßregelnde oder pädagogische Institutionen dreht.

Zu sehen ist „Boxing Gym“ in der nunmehr vierten Auflage des geschätzten „Unknown Pleasures“-Festival, dessen Kuratoren mit großer Sorgfalt die ästhetische und thematische Breite des amerikanischen Independentfilms abbilden. Zu verstehen ist der Begriff Independent dabei nicht im Sinn jenes leblos erkalteten Manierismus skurriler Suburbia-Geschichten, wie ihn das Sundance-Festival als US-Indie-Aushängeschild kultiviert hat. Zwar kann auch „Unknown Pleasures“ auf die großen Namen schwer verzichten: Einen Schwerpunkt bilden neuere Dokumentarfilme von Martin Scorsese, der sich mit Arbeiten über die New Yorker Autorin Fran Lebowitz („Public Speaking“) und Beatle George Harrison („Living in the Material World“) auch weiterhin auf zwar wegen des verwendeten Archivmaterials ansprechende, aber recht gewöhnliche Weise durch seinen privaten Kulturpantheon samplet.

Doch interessiert sich „Unknown Pleasures“ vor allem für das wirkliche Independentkino jenseits von Indiewood und Quality-TV. Junge Filmemacher wie Aaron Katz oder Joe Swanberg sind, trotz des enormen Outputs des Letzteren, tatsächlich noch zu entdecken, wenn nicht sogar Nachholbedarf herrscht. Beide sind Protagonisten der losen „Mumblecore“-Bewegung, einer produktiven Szene von Filmemachern, die mit kostengünstig produzierten Filmen das eigene soziale Umfeld der biografisch in einer Warteschlaufe befindlichen Twenty-/Thirtysomethings zwischen Studienabschluss und Berufsleben in den Blick nehmen.

Katz und Swanberg reagieren auf je eigene Weise auf die ästhetischen und inhaltlichen Sackgassen dieser thematischen Zuschneidung: An der Grenze zur „Mumble“-Parodie und in ungewöhnlich ästhetisierten Bildern erzählt Katz in „Cold Weather“ von einem Studienabbrecher, der seinem Fabrikjob bald durch private Detektivarbeit zu einem kuriosen (und womöglich gar nicht stattgefundenen) Kriminalfall zu entkommen versucht und sich dabei mit Sherlock-Holmes-Pfeife zu immer abwegigeren Spureninterpretationen versteigt. Das Eifersuchtsdrama „Silver Bullets“, in dem Swanberg selbst einen depressiven Regisseur kleiner Kunstfilme dreht, der fürchtet, seine Freundin an einen Horrorfilmregisseur zu verlieren, mündet zum Ende in ein so kaum erwartbares, ästhetisches wie emotionales Furiosum, das wie ein Befreiungsschlag aus der Beschäftigung mit dem eigenen Tun wirkt.

Damit bietet „Unknown Pleasures“ – und nicht nur in diesen beiden Fällen – die hierzulande seltene Gelegenheit, das in Kino und auf DVD nahezu unsichtbare amerikanische Indiekino an einer entscheidenden Weichenstelle in einer Neuverhandlung seiner eigenen Modalitäten zu beobachten. Wer sich für das Kino interessiert, ist gut beraten, diese zu nutzen.

■ Unknown Pleasures. American Independent Film Fest, Babylon, Rosa-Luxemburg-Str. 30,

bis 15. Januar