DVDESK
: Mit Marx- und Engelszungen

„Red Psalm“. Regie: Miklós Jancsó, Ungarn 1972, 87 Min.

Zu Beginn von Miklós Jancsós „Red Psalm“ wird im buchstäblichen Sinn ein Schauplatz eröffnet. Eine geografisch nicht genau markierte Spielstätte, eine Ebene in freier Natur, mitten hinein springt der Film, hier spielt sich alles Folgende ab. Einen historischen Hintergrund gibt es, spätes 19. Jahrhundert, ein Geschehen lässt sich ausmachen, kommunistischer Aufstand des Volkes gegen vor allem vom Militär verkörperte staatliche Macht. Was geschieht, wird jedoch nie genauer datiert und auch nicht nach Art eines Historienfilms in individualisierte Handlung überführt: Die Handelnden tragen zum größten Teil keine Namen, bekommen sie erst im Moment, in dem sie zum Märtyrer werden. Vielmehr scheinen hier einzelne Menschen, Gruppen und Massen zu einer Art oberammergauischem Volksstück versammelt.

Der Film besteht aus nicht sehr vielen Szenen, die alle recht lang sind und als Plansequenz inszeniert. Zu sehen sind Konfrontationen zwischen Obrigkeit und aufständischem Volk. Wieder und wieder fassen sich Männer und Frauen an den Schultern und schließen sich zusammen zur Reihe oder zum Kreis. Teils nackte Frauen drücken Tauben an sich und stellen sich den Widersachern schutzlos entgegen. Man hat dies und anderes vermutlich symbolisch zu nehmen, muss aber auch wieder nicht, es bietet genug Reize schon als großartig choreografiertes Geschehen. Die Soldaten reiten zu Pferde, Dialoge im engeren Sinn gibt es kaum, dafür wird immer wieder mit Marx- und Engelszungen sozialistisch agitiert. Zusammenhänge stellen sich her und verwehen auch wieder, Urszenen der Revolte, Drohen, Zusammentreiben, Liquidation, „Krieg und Frieden“, das alles aber abseits der Konventionen der psychologischen filmischen Romanrealismusimitation.

Stattdessen: Gesang, Musik, Mandoline, Gitarre, Drehleier, Geige, dies alles nicht als Soundtrack unter die Bilder gelegt, sondern es sind die Musikanten mit ihren Instrumenten mitten im Spiel, unter ihnen ein junger Mann mit John-Lennon-Brille im freundlichen Empörergesicht. Der Titel des Films bezieht sich auf einen Gedichtzyklus des revolutionären – aber nicht kommunistischen – ungarischen Nationaldichters Sándor Petőfi, zu hören sind jedoch Volkslieder, und zwar keineswegs nur ungarischer Herkunft oder sozialistischer Gesinnung, sondern etwa auch die schottische Weise „Charlie is my Darling“.

Ein Singspiel im Freien, dessen Clou aber ein genuin filmischer ist. Der eigentliche Akteur nämlich, unsichtbar und bestimmend, ist die sehr bewegliche Kamera. Geradezu al fresco komponiert sie Szene für Szene in einer höchst ausgeklügelten Choreografie die sich auf dem freien Feld zu Spielszenen gruppierenden, wieder auseinandergehenden, sich neu gruppierenden Menschen zu beweglichen Bildern im sich ständig verändernden, von der Bewegung der Kamera neu gezogenen Rahmen. Kaum einmal – nur gegen Ende in einer Massenerschießung – gibt es eine den Raum zum Tableau arretierende Totale.

Meist schleicht sich und schlängelt sich die Kamera durch das Geschehen, aber nicht wie eine Dokumentarfilmhandkamera im Gewusel beispielsweise eines Freiluftkonzerts, sondern als zentralperspektivischer Fluchtpunkt, auf den sich jede Aktion, die man sieht, ganz eindeutig bezieht, ja auf den hin sich alles, was sich ereignet, in ständiger Bewegung neu arrangiert. Ganz einzigartig ist das in der koordinierten Choreografie, die Akteure und Kamera zu einem dauernd sich wandelnden Bild verkoppelt, dies aber nicht streng kunstfilmverrückt, sondern eher volksliedhaft lose in Reigen und Tänzen und Strophen. Im sozialistischen Ungarn bekam Regisseur Miklós Jancsó Formalismusvorwürfe zu hören, in Cannes erhielt er den Preis für die beste Regie. Er ist heute neunzig und dreht weiter Filme. „Red Psalm“ ist ein Höhepunkt seines Werks, Second Run offeriert darüber hinaus eine Box mit drei früheren Filmen aus den sechziger Jahren.

EKKEHARD KNÖRER