DER SOZIOLOGE
: Auf der Tanzfläche

Ich glaube, er glaubt, das sei ein Kompliment

Letzten Mittwoch Alte Kantine. Im Grunde ist alles wie immer. Fast. „Ich werde nur noch halb so viel angemacht!“, heule ich meinem Kumpel Christoph ins Ohr. „Bloß weil die Haare ab sind!“

„Du bist trotzdem die Schönste hier“, sagt Christoph. Er ist ein echter Gentleman. „Guck mal, der da“, sagt Christoph und zeigt auf den im gestreiften Pullover hinten rechts, der war mir auch schon aufgefallen. „Los, ran da!“, sagt Christoph. „Mann, Christoph!“, sage ich. „Ich habe einen Freund!“ „Na und“, sagt Christoph, „ich denke, du willst nur tanzen! Haste doch letzte Woche groß verkündet!“ „Ach, in Wirklichkeit halte ich davon ja nichts“, sage ich, „ich knutsche lieber gleich.“

„Hallo, du siehst sympathisch aus!“ Aus dem Nichts ist plötzlich dieses Paket Muskeln vor mir aufgetaucht. „Ja, hallo!“, sage ich, „Du bist überhaupt nicht mein Typ!“ Das irritiert den Muskelmann nicht. Er beugt sich zu mir runter. Sein Bizeps ist so dick wie mein Hals. „Kurze Haare bei Frauen is ja immer schwierig“, lässt er mich wissen, „aber dir steht dit!“ Ich glaube, er glaubt, das sei ein Kompliment. „Arbeitest oder studierst du?“, fragt er weiter. „Ich bin Schriftstellerin“, sage ich. Er überlegt kurz. „Bist du auch Feministin?“, fragt er. „Logisch“, sage ich, gespannt, was jetzt kommt. „Ich bin nämlich Soziologe“, erklärt er. „Ah!“, sage ich. „Weißt du“, sagt er, „die Gesellschaft ist einfach nicht gemacht für das Matriarchat.“ „Nein?“, sage ich. „Is doch klar“, sagt er, „in Ländern, die für Frauenrechte eintreten, gehen die Geburtenraten zurück. Wir sterben aus!“ Ich rufe um Hilfe: „Christoph!“ Mein Gentleman kommt angetanzt und verjagt den Protz mit einem beherzten Arschgriff.

„Siehst du“, sage ich zu Christoph, „genau aus dem Grund knutsche ich lieber gleich. Das ist immer noch das Beste, was die meisten Leute mit ihren Mündern machen können.“

LEA STREISAND