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: Blicke alles immer so an, als könnte es leben

„Arrietty – Die wundersame Welt der Borger“ (Hiromasa Yonebayashi, Japan 2009)

Von einer ökologischen Nische der magischen Art erzählt „Arrietty – Die wundersame Welt der Borger“, ein Anime nach Motiven der britischen Kinderbuchklassiker von Mary Norton. In einem Haus im Grünen leben Arrietty, knapp 14, und ihre Eltern. Allerdings leben sie da in winzigen Räumen unter dem Fußboden, an den Wänden ihrer Behausung hängen gemäldegroß Briefmarken mit Schmetterlings- und Vogelmotiven. Arrietty und ihre Eltern sind kleine Leute, ausgewachsene zwölf Zentimeter, die am Leben der großen Menschen unsichtbar parasitieren. In nächtlichen Expeditionen werden Felsschluchten hinter den Wänden erklommen, seilen Arrietty und ihr Vater sich vom Küchenschrank ab, überwinden gekonnt Hindernisse jeglicher Art, um zum Beispiel ein Stück Würfelzucker zu erbeuten. Die Borger nehmen sich, ohne zu fragen, aber nur was sie brauchen, und was bei den Menschen keiner vermisst.

Es ist Borgergesetz, den Menschen aus den Augen zu bleiben. Umgekehrt nehmen nur sehr Aufmerksame die Kleinwesen wahr. Sho, auch etwa 14, ist solch ein aufmerksamer Mensch. Er ist der Schonung bedürftig, von seinen Eltern einer bevorstehenden Herzoperation wegen mit Tante und Haushälterin ins alte Haus im Grünen verbracht. Schon als er ankommt, erhascht er einen Blick auf die durchs Gras huschende Arrietty. Sho ist neugierig und freundlich, ihm ist die Welt der großen Menschen fremder als die der kleinen, er ist ganz ohne Arg, und doch nimmt vom Moment dieses Erblickens an das Unglück der Borgerfamilie seinen Lauf.

„Arrietty“ erzählt vom Konflikt zwischen Familienbanden und Liebe zum Fremden, eine Geschichte über den Wunsch und die mit dem Erwachsenwerden verbundene Notwendigkeit, die Grenzen der eigenen Welt zu überschreiten. Der Film entstand nach einem Drehbuch des japanischen Animemeisters Hayao Miyazaki; die Regie hat er erstmals Hiromasa Yonebayashi überlassen, der zuvor 13 Jahre lang als Animationslehrling im Studio Ghibli an großen Miyazaki-Filmen beteiligt gewesen ist.

Belebung und Beseelung

Mit seinem Regiedebüt beweist er nun, dass er die Ghiblikunst souverän beherrscht, nämlich die Kunst der Belebung der Welt bis ins kleinste Detail, eine Belebung, die immer auch eine Beseelung ist. Diese Belebung und Beseelung kann nur in der Animation so überzeugend gelingen, weil hier alles im Bild gleichursprünglich neugeschaffen ist. Darin steckt für Miyazaki, und das unterscheidet ihn von fast allen, auch ein ethischer Imperativ: Blicke alles immer so an, als könnte es leben. Und so schlägt in diesen Filmen auch das Unbelebte in der Natur die Augen auf und blickt auf den Menschen zurück. Stets mischt Miyazaki Märchen und Legenden, Kinderbuchklassiker und selbst erfundene Motive, Jules Verne und Lewis Caroll, Mythen von Melusinen und schintoistische Traditionen zu westöstlichen Hybriden – schon die Züge der Figuren sind kaum asiatisch, aber auch nicht ganz westlich.

Was immer hineinfließt in diese Geschichten, am Ende sind sie authentisch nur irreduzibel mischwesenhaft. In Filmen wie „Prinzessin Mononoke“ erzählte Miyazaki von Weltreisen und drohendem Weltuntergang im epischen Format. „Arrietty und die Borger“ ist eine Geschichte von kleineren Wesen, der Film wählt das Genre, das dazu passt: die Idylle. Verharmlost wird hier aber nichts. Gerade eine als beseelt vorgestellte Natur ist immer auch potenziell bedrohlich bis lebensgefährlich, das Böse in ihr wie unter den Menschen eine nie zu unterschätzende Kraft.

EKKEHARD KNÖRER

■ Die DVD ist ab 13 Euro im Handel erhältlich