Haarsträubende Odyssee

SEEMANNSGARN Harry Rowohlt liest Oleg Jurjews „Die russische Fracht“. Und der Autor singt dazu russische Seemanns- und Ganovenlieder

Man könnte sich den unvermeidlichen Harry Rowohlt hervorragend in Oleg Jurjews Roman „Die russische Fracht“ vorstellen. Der passionierte Rauschebartträger, geschätzte Übersetzer und beliebte Vorleser mit der tiefbrummenden Stimme hätte einen tollen Seebären auf dem ukrainischen Frachtschiff „Atenov“ abgegeben, dessen abenteuerliche Fahrt von Petersburg nach Kiel der Autor als fantastische, ja haarsträubende Odyssee konzipiert hat.

Das illustre Figurenarsenal kennt, unter anderem, einen offensichtlich unsichtbaren, Tenor und Bariton singenden Kapitän, einen estnischen Grenzer und Hitler-Fan, einen deutschen Spion und eine russische Priesterbraut. Den 27-jährigen Ich-Erzähler nicht zu vergessen: Wenjamin Jasytschik flieht aus seiner Heimat, nachdem „nackenlose Brüder“ seinem Stiefvater die Kehle durchgebissen haben. Eine ominöse Transit-GmbH hatte der betrieben, die „Bologneser Elitehündchen“ beim Zoll als japanische Zwergschafe ausgab, um das EU-Importverbot auszuhebeln. Nun sind die Brüder hinter Wenjamin her – Schulden eintreiben. Oder Schlimmeres.

Der 1959 in Leningrad geborene und seit 1991 in Frankfurt lebende Erzähler Jurjew ist auch Lyriker, Dramatiker, Essayist. Er hat Wirtschaftsmathematik und Theorie der Systeme studiert, trockenes Zeug, was man seinen Büchern aber keineswegs anmerkt, insbesondere diesem hier nicht: „Die russische Fracht“ ist Seemannsgarn auf sprachlich bemerkenswert überdrehtem Niveau, eine Schatztruhe russischen Jargons, reich an lyrischen und literarischen Zitaten, traditionell geprägt von Bulgakow und Gogol, Lewis Carroll und Edgar Allan Poe.

Der immensen Sprachlust Jurjews entspricht seine ruhelose Fabulierlust, wobei „ruhelos“ auch insofern ein gutes Stichwort ist, als es sich bei der „Atenov“ um einen Fliegenden Holländer handelt – ein Geisterschiff. Das also ist die echte Fracht des als Kreuzfahrtschiff getarnten Kühlschiffes. Sein dickes Seemannsgarn hat Jurjew eher nicht nach dem Vorbild eines roten Plotfadens arrangiert. Schiffspersonal, Passagiere, all die quicklebendigen Toten, sie repräsentieren nostalgische Fallstricke. Sie stehen für Wenjamins Petersburger Vergangenheit. Er muss sie nicht vernichten, ein bisschen loslassen aber schon.MICHAEL SAAGER

■ Göttingen: Di, 6. 2., 20 Uhr, Junges Theater, Hospitalstraße 6; Hamburg: Do, 8. 2., 20 Uhr, Uebel & Gefährlich, Feldstraße 66