ORTSTERMIN: EIN SMARTER PROFESSOR SPRICHT ÜBER ZAUBERFORMELN
: Wo nicht ohnehin allen alles klar ist

Ziegler geht es darum, Klischees über Formeln zurechtzurücken und falsche Wissenschaftsgläubigkeit zu erschüttern

Es sind knapp 30 Leute gekommen, um mehr über die Wunder der Mathematik zu erfahren. Etwa die Hälfte von ihnen sind Frauen. Ein paar junge sind dabei, ein Paar mit Säugling im Kinderwagen. Es scheint, dass eine ganze Familie wissen will, was „Zauberformeln“ sind – so heißt der Vortrag. Und im Untertitel: „Was Mathematik kann“.

Die Hamburger Deichtorhallen zeigen derzeit eine Ausstellung über Wunder. Begleitend haben sie Wissenschaftler wie den Berliner Mathematiker Günter M. Ziegler eingeladen. Der ist ein jungenhaft aussehender Mann mit kurzen graumelierten Haaren, trägt Anzug und den Titel „Deutschland smartester Mathematikprofessor“.

Den hat sich die Werbeabteilung für Zieglers Buch „Darf ich Zahlen – Geschichten aus der Mathematik“ ausgedacht, aber die wissenschaftliche Welt schätzt ihn auch so: 2001 erhielt er den Leibnizpreis und 2008 den Communicator-Preis für die Vermittlung wissenschaftlicher Ergebnisse in der Öffentlichkeit.

An diesem Abend vermittelt er, wenn man es genau betrachtet, wenig über Wunder und Mathematik. Aber was sollte eine Naturwissenschaft auch mit Wundern anfangen können, außer sie als Missverständnis aufzuklären? Ziegler geht es vielmehr darum, einige Klischees über die Bedeutung von Formeln zurechtzurücken, falsche Wissenschaftsgläubigkeit zu erschüttern.

Er beginnt mit jenen Mathematikern, die zugleich Schriftsteller waren: Arthur C. Clarke, der die geostationären Kommunikationssatelliten erfunden hat und daneben aber ein sehr erfolgreicher Science-Fiction-Autor war. Stanley Kubricks „Odyssee im Weltraum“ beruht auf einer seiner Kurzgeschichten. Und Charles Lutwidge Dodgson, besser bekannt als Lewis Carroll. Ziegler würdigt ihn als jemanden, der „durchaus wichtige Dinge in der Mathematik getan hat“ – aber „wichtigere mit seinen Büchern“. In „Alice hinter den Spiegeln“ heißt es: „Manchmal habe ich schon vor dem Frühstück sechs unmögliche Dinge geglaubt.“ Man fragt sich, ob der Geist von Mathematikerinnen und Mathematikern – Ziegler nennt ausdrücklich beide – grundsätzlich von diesem unschuldigen Anarchismus ist.

Ziegler zerpflückt im Vorübergehen die Theorien US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Samuel Huntington. Der hat, angelehnt an das Forscherpaar Feyerabend, die Gleichung „soziale Wunscherfüllung geteilt durch soziale Wunschbildung ist gleich systemische Frustration“ genutzt, um die politische Stabilität von Gesellschaften zu bestimmen. Ziegler sagt, dass die Feyerabends und Huntingtons hier an einfachem Bruchrechnen scheitern: Nach ihrer Rechnung müssten die Menschen bei hoher Wunscherfüllung und niedriger Wunschbildung stark frustriert sein. Aufgefallen ist das erst Jahre später.

Um die Expertengläubigkeit dreht sich die Diskussion im Anschluss. War es falsch, dass die Politiker nach dem Vulkanausbruch auf Island den Computermodellen glaubten und alle Flüge verboten? Nein, sagt Ziegler. Er will auch, dass Bürger und Politik sich darum kümmern, was es mit den Datensammlern wie Amazon und Facebook auf sich hat, die mit den mittels Formeln ausgewerteten Kundendaten unsichtbare Macht gewinnen.

Zum Schluss nehmen die Dinge eine philosophische Wendung: Ein Herr in der ersten Reihe will wissen, ob sich die Leute nach einer gegen die Anschaulichkeit verstoßenden Schrift sehnen, und abspringen, sobald sie ihr begegnen. Und diese Furcht als Vorschuss-Respekt an die Mathematik delegieren. Eine Frau wünscht sich mehr Intuition in der Mathematik und führt ihren Vater an, der das Wetter mittels seiner Kriegsverwundung vorhersagte. „Natürlich“, sagt Ziegler, müsse man mit der Realität abgleichen. „Aber vor allem muss man da Zeit verbringen, wo nicht ohnehin allen alles klar ist.“ FRIEDERIKE
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