Überall im Raum Gesang

KLANGKÖRPER Jochen Sandig und der Rundfunkchor Berlin zeigen im Radialsystem eine grandiose, buchstäblich sehr bewegende Konzertinszenierung von Johannes Brahms’ Requiem

Sie nennen es Schuhe. Bevor der große Saal des Radialsystems betreten werden darf, muss man, nachdem man seine Winterjacke selbsttätig an einer Schnur aufgehängt hat, sich der Straßenschuhe entledigen, um in grob zusammengefädelte Überzieher aus Sackleinen zu schlüpfen.

Bereits das schafft eine gewisse Verbundenheit unter den Konzertbesuchern und ist zudem, wie man etwas später erkennt, ein Unterscheidungsmerkmal. Denn diejenigen unter uns, die auf Fußsäckchen verzichten und statt dessen in Ringelsocken, Strumpfhosen oder gar barfüßig einherschreiten, sind die Sängerinnen und Sänger des Rundfunkchors Berlin.

Der Chor hat „Ein Deutsches Requiem“ schon unzählige Male aufgeführt, auch schon einen Grammy dafür bekommen und kann seinen Brahms natürlich im Schlaf. Selbstverständlich wird das Werk auswendig gesungen, und das ist an diesem Abend auch nötig.

In Ringelsocken

Denn Jochen Sandig, Chef des Radialsystems, hat in Zusammenarbeit mit einem Team der Company Sasha Waltz & Guests das Brahms-Werk seines üblichen Konzertambientes beraubt und es mitten unter uns gesetzt.

Zu diesem Konzept gehört auch, dass man aus „Ein Deutsches Requiem“ (wie der Protestant Brahms sein Werk programmatisch im Unterschied zur lateinischen Totenmesse nannte) im Titel das international klangvollere „Human Requiem“ gemacht hat. Dabei beruft man sich auf Brahms selbst, der, wie er brieflich bekannte, „recht gern“ das ‚Deutsche‘ fortgelassen hätte und „einfach den ‚Menschen‘ setzte“.

Der Mensch ist heute Abend ganz auf sich zurückgeworfen, denn es gibt keine Stühle. Man kann stehen, gehen oder sich mal von einer der wenigen kleinen Emporen am Rand einen Überblick verschaffen. Wer findig genug war, sich eine der Jutesackrollen zu organisieren, die unter dem Flügel – denn es wird die Requiem-Fassung mit Klavierbegleitung geben – bereitgehalten werden, kann sich sogar einigermaßen bequem auf den Boden setzen.

Es ist ein unglaublicher Moment, als aus unserer Mitte heraus, von überall im Raum, der Gesang aufsteigt. Selig sind, die da Leid tragen, singen sie, die wir sonst aus einiger Entfernung als monolithischen Klangkörper wahrzunehmen gewohnt sind.

Heute aber ist der Gesang überall, denn die Singenden bewegen sich mitten unter uns. Auch die wunderbaren Solisten Marlis Petersen und Konrad Jarnot werden ihre Soli mitten aus dem Publikum heraus beginnen. Dass der Chor trotz der großen räumlichen Verteilung immer noch perfekt als ein einziger Klangkörper funktioniert, hat etwas Mystisches.

Auf der Schaukel

Denn zwar steht der Chorleiter Simon Halsey (oft unterstützt von einem Co-Dirigenten, dessen Namen man im Programmheft vergeblich sucht) etwas erhöht und zentral an einer Seite des Raumes. Doch während die Singenden durch den Raum gehen, auch mal irgendwo auf dem Boden kauern oder gar auf einer schwingenden Schaukel sitzen, ist es unmöglich, immer den Blick zum Dirigenten zu halten.

Manchmal allerdings erfordert die Musik ein szenisches Einhalten, denn der Komponist hat Fugen in sein Requiem hineinkomponiert, für dessen unfallfreie Durchführung es des permanenten Kontakts zwischen den Ausführenden und ihrem Dirigenten bedarf. Dafür wird schon mal die klassische Podiumsaufstellung zitiert, und für die große Schlussfuge bleiben alle SängerInnen in weitem Rund um den riesigen Saal stehen.

Das ist abenteuerlich genug und ungeheuer eindrucksvoll. Mit einem nur etwas weniger großartigen Chor wäre so eine Produktion gar nicht zu machen.

Jochen Sandig findet einfache, überzeugende, niemals banale Bilder zur Musik, und sogar wenn als Kommentar zu „Tod, wo ist dein Sieg“ eine Schar fröhlicher Kinder aus einem gleißenden Lichtstrahl kommt, ist man gewillt, diese eigentlich etwas modische Theatergeste als dem Pathos des Augenblicks total angemessen zu akzeptieren.

KATHARINA GRANZIN

■ Letzte Aufführung im Rahmen des Festivals chor@berlin am 19. 2., 20 Uhr