Wie man einen Roman baut

LITERATUR In „John Irving und wie er die Welt sieht“ gewährt André Schäfer einen Einblick in die Werkstatt des amerikanischen Bestsellerautoren. Wie alle Details sind auch jene seiner Kastrationsfantasien penibel recherchiert

VON WILFRIED HIPPEN

„Er ist Handwerker, kein Intellektueller“, schreibt John Irving in „Letzte Nacht in Twisted River“ über einen Schriftsteller und bewertet damit auch sich selber. Irving schreibt oft von Schreibern, ihrer Arbeit und ihren Romanen. In „Garp und wie er die Welt sah“ sind fast alle Hauptpersonen Autoren und sie verfassen Bücher über, für und gegeneinander. Irving fasziniert offensichtlich sein eigenes Handwerk, und dies dürfte ein Grund dafür sein, warum er ein deutsches Kamerateam dazu eingeladen hat, ihm in seiner Werkstatt über die Schulter zu schauen.

Ein Autorenporträt, pünktlich zum 70. Geburtstag des Bestseller-Produzenten, weckt keine großen Erwartungen. Man kennt solche Dokumentationen zur genüge aus dem Fernsehen: homestories, bei denen von den Filmemachern mal kluge und mal banale Fragen gestellt werden, die dann geduldig von Protagonisten beantwortet werden, die mehr oder weniger eitel die Rolle spielen, die im Kulturbetrieb von ihn erwartet werden. Doch André Schäfer zeigt, dass man innerhalb dieses Rahmens auch erstaunlich tief gehen kann, wenn der Künstler es erlaubt. In der bildenden Kunst ist Corinna Belz etwas ähnliches mit „Gerhard Richter Painting“ gelungen. Nun kann man von einem schreibenden Autoren nicht so schöne Aufnahmen machen wie von einem Maler, der den Pinsel (oder in Richters Fall eher den Rakel) schwingt. „Es geht so langsam, ein Zuschauer würde bald einschlafen“, sagt Irving selber über den Schaffensprozess, der sich bei seinen Büchern über fünf Jahre erstreckt. Doch wenn er zeigt und erklärt, wie solch ein 700 Seiten langer Roman in seiner Schreibstube auf einer Insel in Kanada (die von einem Vorfahren seiner Frau beim Pokern gewonnen wurde, doch das sei ihre und keine von seinen Geschichten) entsteht, ist das gerade in seiner Genauigkeit erstaunlich interessant. Wenn er die riesigen verschiedenen Manuskripthaufen (mit Erstentwürfen, Korrekturen und Einschüben) zeigt oder schildert, wie er sich vom zu langen Schreiben mit dem Bleistift eine äußerst schmerzhafte Verspannung zuzog, bekommt man zumindest eine Ahnung davon, wie aufwendig diese Arbeit ist und wie penibel er an jedem Wort feilt.

Irving ist für seine irrwitzigen und oft blutigen Plot-Wendungen bekannt (Pauline Kael nennt sie treffend „Kastrationsfantasien“), doch er legt offensichtlich viel Wert darauf, dass sie physikalisch und medizinisch zumindest möglich sind. So erinnert sich ein Freund und Arzt an Fragen darüber, unter welchen Umständen eine Frau beim Sex sterben kann oder ob es tödlich ist, wenn man sich selber eine Hand abhakt (nur mit Alkohol und Aspirin im Blut). Auch die verschiedenen Schauplätze und Milieus hat der Autor genau recherchiert und Schäfer folgt seinen Spuren durch Wien, Toronto, Zürich und Amsterdam, wo Irving Köche, einen Orgelspieler, ein Team von Ärztinnen, Polizisten, Prostituierte und Tattoo-Künstler bei der Arbeit beobachtete und gründlich ausfragte. Im Film können sie in den Romanen genau die Seiten und Zeilen benennen, in denen Irving sich ihrer Informationen und einzelner Charakterzüge bediente, die immer im Detail genau stimmen, dann jedoch in einen völlig neuen und überraschenden Kontext gestellt wurden. Einige von diesen Textpassagen werden passend mit einer sonoren Erzählstimme und Stimmungsbildern aus den Handlungsorten vorgetragen, auf Ausschnitte aus den Verfilmungen seiner Werke oder den selber vorlesenden Autoren haben die Filmemacher weise verzichtet.