Ausstellung im Museum Folkwang in Essen: Das Leben dieses Planeten

Lothar Baumgartens Ausstellung über die Kultur der Yanomami entrückt deren Leben zu einem ästhetischen Produkt. Baumgarten bleibt Chronist aus dem Off.

Das Runde und das Eckige als wiederkehrendes Muster. Bild: L. Baumgarten

Vor 33 Jahren entfloh der Künstler Lothar Baumgarten seinem eigenen Kulturkreis und lebte 18 Monate lang bei 84 Yanomami-Indigenen im Regenwald am oberen Orinoco. Getrieben vom „Unbehagen an der Ambivalenz des Eigenen in einer immer fragwürdiger gewordenen Kulturindustrie“ wollte er das Andere einer fremden, animistischen Kultur „von innen heraus begreifen“. So jedenfalls definierte der 1944 geborene Beuys-Schüler damals das Ziel des beschwerlichen Unternehmens.

Als materielle Ausbeute brachte er 1.131 „eingetauschte“ Objekte, 74 Stunden Film, Tondokumente, unzählige Fotos und 500 Zeichnungen der Yanomami mit nach Hause. Aber erst im vergangenen Jahr entstaubte er diese Sammlung und schenkte sie dem Museum Folkwang in Essen, das nun eine von Lothar Baumgarten selbst getroffene und arrangierte Auswahl zeigt.

Weil die Exponate wertvolle Zeugen einer indigenen Lebensweise sind, die so nicht mehr existiert, wählte er „Abend der Zeit“ als Titel.

Das lang zurückliegende Leben im Regenwald lehrte den Künstler offenbar, dass das Begreifen einer völlig anderen Kultur der Quadratur des Kreises gleichkommt, dass man sie aber von innen kennen- und achtenlernen kann. So gab Baumgarten dem Quadrat und dem Kreis als Grundformen einen gleichberechtigten Raum in der Essener Ausstellung.

Lothar Baumgarten: „Abend der Zeit – Señores Naturales – Yanomami“. Bis 27. Mai im Museum Folkwang in Essen.

Deren Architektur ist klar, rechtwinklig, funktional und ästhetisch reizvoll für den westlichen Blick. Sie doppelt quasi die Strukturen des von David Chipperfield entworfenen neuen Museumsbaus und verzichtet glücklicherweise auf Requisiten wie Palmen und tropische Kulissen.

Bei den Yanomami dagegen ist der rechte Winkel unbekannt, ihre bemalten Pfeilspitzen, Köcher und Speere glänzen, die Hängematten aus Bast, die fein geflochtenen, bemalten Körbe sind von jedem Schmutz befreit, und auch der zarte bunte Federschmuck wird zum schönen Kunstobjekt.

Die Filme und die an die Wände gehefteten zahllosen Fotos im DIN-A4-Format zeigen, wie diese Artefakte im Alltag funktionierten: Wie das große gemeinsame Rundhaus mit einem Innenhof von 65 Metern Durchmesser, das shapono, aus Naturmaterial ohne einen einzigen Nagel erbaut wird. Wie die Yanomami lediglich mit Schmuck, Nasenpflöcken und Penisbeutel bekleidet, also barfuß durch den Wald laufen. Wie sie ihre Kinder drei Jahre lang stillen. Wie sie Kanus aus Baumstämmen hauen. Doch wirkt das Bildmaterial der Musealisierung der Artefakte nicht entgegen. Die vielen unkommentierten Schwarz-Weiß-Aufnahmen entrücken das abgelichtete Leben der Gastgeber auf seltsame Weise, auch wenn Vogel- und Menschenschreie aus der Filmecke tönen.

Da man weder Hitze noch Moskitos spürt, das Essen nicht riechen oder den Dorn im Fuß nicht spüren kann, bleibt man außen vor, empfindet bestenfalls ein wenig Neid auf die scheinbar intakte Sozialstruktur und die ungebrochene Beziehung zum Körper und der übrigen Natur. Hat Lothar Baumgarten diese Strukturen als einengend wahrgenommen?

Chronist in Schuhen

Leider dokumentiert er den Alltag nicht als teilnehmender Beobachter, sondern als auktorialer, vermutlich beschuhter Chronist aus dem Off. Wenn er Tagebuchnotizen zitiert, beziehen sie sich auf die Yanomami: Als die seine Zeichen auf Papier lustig fanden, verteilte er Stifte, Farben, Papier und Klemmbretter, sodass 500 DIN-A4-Zeichnungen entstanden. Auf ihnen variieren die Waldbewohner die abstrakten Linien und Punkte, mit denen sie ihre Körper und Gegenstände schmücken. Nur diese Werke wurden für die Ausstellung hinter Glas gerahmt, eine Hommage an die neuen Baumgarten-Meisterschülerinnen und -schüler.

Gern hätte man auch erfahren, wie Baumgarten mit all seinen Utensilien zu den Yanomami fand, wie er die vielen Objekte aus dem Regenwald schaffte und vor allem, welche Veränderungen der lange Kontakt auf beiden Seiten bewirkte. Erkannte er, dass die Anwesenheit des Ethnografen die Traditionen nicht nur bewahren hilft, sondern diese selbst tangiert?

Claude Lévi-Strauss war da mitteilsamer. Im Jahr 1935 besuchte der französische Ethnologe mehrere Indianergruppen weiter südlich, die eine ähnliche Kultur lebten. In seinem 1995 auf Deutsch erschienenen Bildband „Brasilianisches Album“ bezog er sich selbst auf Fotos und im Text mit ein, wodurch seine Annäherung an die fremde Welt sinnlich vorstellbarer wird. Er thematisierte auch die schon damals enormen Zerstörungen durch Landnahmen und Goldsucher mit ihren Auswirkungen auf die Ureinwohner ausführlicher. Diesen Aspekt berücksichtigt die Essener Ausstellung kaum, obwohl sich die Situation bis 1978/79 dramatisch verschlechtert hatte.

Lebensraum schrumpft

Nur noch etwa 32.000 Indigene leben beiderseits der brasilianisch-venezolanischen Grenze. Hilfsorganisationen wie „Rettet den Regenwald“ registrieren, dass ihr Lebensraum durch Uran- und Ölsuche, durch Rodungen für Soja, Ethanolpflanzen und Viehzucht, durch neue Staudämme und Straßen sowie die Invasion der Goldgräber schrumpft. Der Zwang, durch sklavenähnliche Arbeit in der Stadt und auf Plantagen sowie den Verkauf von Kunsthandwerk Geld zu verdienen, führt zu psychischen Störungen und Alkoholismus, aber auch zur Gegenwehr und zum Zusammenschluss der einzelnen Gruppierungen.

Heute haben die Yanomami ihre Selbstorganisation Hutukara mit Büro in Boa Vista, mit Website und E-Mail-Adresse, denn die brasilianische Behörde für indigene Angelegenheiten Funai ist kaum eine Hilfe. Hutukara macht neue Missstände öffentlich und organisiert Demonstrationen.

Der Schamane Davi Kopenawa erhielt als Vorsitzender den alternativen Nobelpreis. Er sprach vor der UNO in New York über das Elend seines Volkes und auf Einladung von Hilfsorganisationen auch in Deutschland. Wenn er die Bewahrung der Regenwälder fordert, denkt er nicht nur an die Yanomami, sondern global: „Niemand darf den Boden antasten, weil er heilig ist. Heilig, um Leben zu retten, das Leben dieses Planeten.“

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