Jörg Baberowskis "Verbrannte Erde": Mord im Plansoll

Jörg Baberowski erzählt in "Verbrannte Erde" suggestiv und gekonnt die Geschichte des stalinistischen Terrors. Die Erklärungen für die Gewalt bleiben dünn.

Stalins Tod 1953 war ein historischer Einschnitt, der nur mit 1917 und 1990 vergleichbar ist. Das Denkmal wurde 1956 errichtet, 1992 verkauft. Bild: dpa

Am 3. Juli 1937 ließ Stalin ein Telegramm an die Parteiführer in den Provinzen verschicken. Antisowjetische Elemente müssten verhaftet und erschossen werden. Die Provinzfürsten übertrumpften sich fortan mit Mordzahlen, um so dem vermuteten Willen Stalins zuzuarbeiten und Verlässlichkeit zu beweisen. Allerdings reichte das nicht. Ende Januar 1938 verfügte Stalin, es müssten noch 48.000 Volksfeinde mehr getötet werden.

In Moskau wurden Blinde und Invalide umgebracht, in Leningrad Taubstumme, andernorts frühere Soldaten der zaristischen Armee. Es gab keine Prozesse, keine Verteidiger. Es war ein fast wahlloses Morden. Wer zu einer Minderheit zählte, war in erhöhter Gefahr. „Vernichten Sie diesen polnischen Spione-Dreck“ schrieb Stalin am 14. 9. 1937 an den NKWD-Chef Jeschow. Im Donbass wurden daraufhin alle 3.628 griechischstämmigen Sowjetbürger verhaftet, 3.470 ermordet. Die Mordplanziffern mussten erfüllt werden. Mindestens 700.000 wurden in knapp zwei Jahren deportiert, 681.000 ermordet, wahrscheinlich weit mehr.

Die Ereignisse von 1937 erscheinen uns noch immer monströs, fast einzigartig in Maßlosigkeit und Willkür. In Jörg Baberowskis Gewaltgeschichte von 1917 bis 1953 sind sie nur ein Kapitel. Der Große Terror war eine Verdichtung, keineswegs einzigartig. Die Kampagne gegen die Kulaken, die ein von oben verordneter Bürgerkrieg gegen die ukrainischen Bauern war, forderte 1932 weit mehr Opfer. Auch nach 1938 ging das Morden, auf niedrigerem Niveau, weiter.

All das ist nicht neu. Doch Baberowski versteht es, diese Abfolge von Gewaltexzessen souverän und genau zu erzählen. Die Perspektiven wechseln: Stalins paranoider Blick aus dem Kreml, das Geschehen in den Provinzen, die wenigen Dokumente, die die Exzesse aus dem Blick der Opfer schildern. Es bedarf einer nicht zu unterschätzenden Kunstfertigkeit, diese schier endlose Folge von Mord und Tod in eine Erzählung zu verwandeln. Diese Fokussierung auf den Terror führt drastisch vor Augen: Es gibt, im Ausmaß der Gewalt, keinen Unterschied zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus.

Kunstfertiges Erzählen

Baberowskis Schlüsselfrage lautet: „Woher kam die Gewalt, mit der die Machthaber die Gesellschaften des Vielvölkerstaates überzogen?“ Ein Grund war die Schwäche der Bolschewiki, die vor 1917 nicht mehr als eine ein paar tausend Mann starke Politsekte waren. Im Bürgerkrieg erprobten sie erfolgreich den Massenmord als Herrschaftsmittel. In den 20er Jahren waren sie eine Art verzweifelte Kolonialisatoren, die ahnten, dass ihre Macht nur bis zur Moskauer Stadtgrenze reichte.

Die Gewalt war, so Baberowski, die Essenz ihrer Herrschaft. Sie war kein Ergebnis des westlichen Marxismus und schon gar nicht, wie Timothy Snyder in „Bloodlands“ nahelegt, katalysiert durch den Krieg der Nazis. Sie war zwingendes Ergebnis des Krieges, den die Bolschewiki gegen das Volk führten, gegen das von „Gewalt und Alkohol regierte“ (Baberowski) russische Dorf. Dieser Krieg verlief in Wellen – aber es blieb immer ein Krieg. Auch die Neue Ökonomische Politik (NÖP) in den 20er Jahren, als der Terror fast verschwand und die Märkte florierten, war nur eine „Inkubationszeit des Stalinismus“. Denn niemals hätte die KP die Macht aus den Händen gegeben.

So war es – allerdings zeigt ein Blick nach China, dass es Wege gibt, Parteiherrschaft und Märkte zu verbinden. Für diese Möglichkeit stand in der Sowjetunion 1929 Bucharin. Auch wenn man vorsichtig mit historischen Konjunktiven sein sollte, hier ist er angebracht: Ohne Stalins Sieg über Bucharin hätte es die Gewaltexplosionen der 30er Jahre so nicht gegeben. Dass es, wenn auch vage, Alternativen gab, bleibt in „Verbrannte Erde“ unterbelichtet.

Denn der Terror war für Baberowski zwangsläufig. Er wurzelte „in den Erfahrungen und der mentalen Zurichtung der Bolschewisten“. Stalins Psychopathologie und Bösartigkeit rückt so ins Zentrum. In Stalin, dem georgischen Bankräuber, verdichtet sich der „in Lederjacken gehüllte Machokult des Tötens“. Das ist die schillernde Kernthese diese Buches. Sie bleibt indes nur eine Skizze: „Verbrannte Erde“ entwirft keine Psychohistorie des Stalinismus. Die Signalworte „Machokult“ und „Gewaltkultur“ sind eher Beschreibungen als Erklärungen.

Irritierend wirkt, dass der Erste Weltkrieg, der die soziale Welt Russlands zerriss, in diesem Gewaltpanoptikum nicht vorkommt. Das ist kein Zufall: Denn es würde die Grundthese – bürgerliche Ordnung hier, entfesselte Gewaltstürme dort – verwirren. Der Erste Weltkrieg kam aus jener bürgerlichen Ordnung, die wir als Gegenwelt zum Schlachthaus verstehen sollen.

Modernisierung durch Terror

Alle Modernekritik, etwa von Zygmunt Bauman, hält Baberowski als Erklärungsmuster für dieses Gewaltregime für „Unfug“. Das ist flott formuliert, zu flott. Die Frage nach der Moderne, die forsch für erledigt erklärt wird, kommt durch die Hintertür wieder herein. 1922 war die Sowjetunion eine Art Failing State, regiert von Chaos und lokalen Warlords. Aus diesem Torso wurde in 20 Jahren eine industriell hochgerüstete Militärmacht. Aber wie? War der Terror wirklich vor allem aus Stalins Paranoia geboren? Aus der Distanz betrachtet scheint die irrationale Gewalt auch ein Moment der Modernisierung gewesen zu sein, das die Zentren barbarisierte und das Land zwangszivilisierte. Keine Theorie ist jedenfalls auch keine Lösung.

Trotz einiger Kurzschlüsse erzählt „Verbrannte Erde“ eindringlich. Man begreift, dass Stalins Tod 1953 ein historischer Einschnitt war, der nur mit 1917 und 1990 vergleichbar ist. Die Lagertore des Gulag wurden geöffnet. Fortan konnte jeder, vom Politbüromitglied bis zum Taxifahrer, vom Geheimdienstmann bis zur Fabrikarbeiterin, sicher sein, sich morgens nicht in einem Folterkeller wiederzufinden. Das war ein Unterschied ums Ganze.

„Chrustschows Entstalinisierung war eine Kulturrevolution, eine zivilisatorische Leistung, die das Leben von Millionen veränderte“, schreibt Baberowski. Es war das Ende einer allgegenwärtiger Gewalt.

Jörg Baberowski: "Verbrannte Erde". C. H. Beck Verlag, München 2010, 606 Seiten, 29,95 Euro
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