Die Zeit ist aus den Fugen

FOTOGRAFIE Den Realismus mit seinen eigenen Mitteln schlagen: Die Ausstellung „Time is out of joint“ in der Berlinischen Galerie zeigt den Fotoexperimentator Boris Mikhailov

Auch der Soz-Art-Fetisch „Realität“ verunklarte sich plötzlich, wie er sich verdoppelte und ineinanderschob

VON INGO AREND

Eine Frau, die im Schnee ihren Unterleib entblößt, ein alter Mann in Uniform, der eine Axt schwingt, einer streckt dem Betrachter seinen vernarbten Hintern entgegen. Seit seiner berühmten Bilderserie „Case History – Krankheitsgeschichten“ ist Boris Mikhailov unter einem festen Image abgespeichert.

Kaum war der 1938 in Charkow geborene Künstler Ende 1996 von seinem Berliner DAAD-Stipendium in seine Heimat zurückgekehrt, macht er sich daran, das Leben der „Bomzhes“, der Obdachlosen in der ukrainischen Industriestadt festzuhalten. „Schrecklich, aber unvergesslich“, notierte ein britischer Kritiker vor gut zehn Jahren über Mikhailovs drastische Aufnahmen. Sie avancierten zu Chiffren des postsozialistischen Niedergangs. Mikhailovs Siegeszug durch die Museen begann. 2000 wurde er dafür mit dem renommierten Hasselblad-Foto-Preis ausgezeichnet.

Es ist das Verdienst der jüngst eröffneten Ausstellung der Berlinischen Galerie, dass sie dieses reduzierte Bild aufbricht. Denn anders als bei der Nan-Goldin Ausstellung vor einem Jahr verlässt sich Kurator Thomas Köhler, der Direktor des Hauses, diesmal nicht auf die „Erfolgsbilder“ seines Gastes, sondern präsentiert das gesamte Oeuvre bis in die jüngste Gegenwart.

Und das lehrt, dass man diesen Künstler nicht auf irgendeinen Realismus festlegen sollte. Auch wenn er selbst immer wieder das „Alltägliche und Gewöhnliche“, gar „Wahrhaftigkeit“ für seine Kunst reklamiert. Wenn er sich spöttisch als „Straßenköter“ bezeichnet. Oder die Abwesenheit ästhetischer Ambitionen dadurch demonstriert, dass er seine Bilder „aus der Hüfte schießt“. So entstand seine Serie „Am Boden“, mit der er 1991 in Kiew und Charkow das Leben der Ausgegrenzten festhielt.

Die Überzeichnung

Zwar nahm im Alltäglichen alles seinen Ausgang bei Mikhailov. Zu Beginn der sechziger Jahre begann der junge Ingenieur für Raketenbau Betriebsfeiern in der Fabrik, in der er arbeitete, mit der Kamera aufzunehmen. Doch dieser Lebensalltag ist immer so unmerklich aufgeladen, arrangiert oder „überzeichnet“, dass er sich selbst zu dementieren scheint: Das gilt, wenn Mikhailov seine menschlichen Wracks zu christlichen Bildmotiven wie der Pietà gruppiert. Oder seine Fotoserien über die Badefreuden der Ukrainer mit Sepia belegt. Wenn er mit kolorierten Fotos den grauen Alltag in blühenden Kitsch verwandelt. Oder in der „Roten Serie“ den Dimensionen einer Farbe nachspürt. Der abblätternde Lack einer Teppichstange neben dem strahlenden Rot der Tribünen für die Mai-Parade wird da zu einem politischen Kommentar.

Noch frappierender wirkt dieser Versuch, den Realismus mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen, mit den „Butterbrot“ genannten Überblendungen der Jahre 1968 bis 1975. Der experimentierfreudige Autodidakt Mikhailov projizierte zwei Diapositive übereinander: Das eines schlaffen Penis über das Bild einer Frau im Slip mit Schneeglöckchen vor der Brust etwa oder das zweier heiterer Frauen in Sommerkleidern, vor deren Händen eine fette Salami schwingt.

Natürlich war das eine Hommage an die zu Frühzeiten der Russischen Revolution beliebte Montage. Der surrealistische Slapstick dieser Arbeiten elektrisierte damals die sowjetische Fotoszene. Zumal Mikhailov die Diashow der Bilder mit Musik von Pink Floyd unterlegte. So knackte er nicht nur das unentrinnbar Figurative der Fotografie. Auch der Soz-Art-Fetisch „Realität“ verunklarte sich plötzlich, wie er sich verdoppelte und ineinanderschob.

Auf die konzeptuelle Spitze trieb Mikhailov diese Versuche in seiner Serie „Wenn ich ein Deutscher wäre“. In Nazi-Uniformen stellten er und seine Frau Vita, die Künstlerkollegen Sergej Bratkow und Sergej Solonskij, mit denen er die „Fast Reaction Group“ gegründet hatte, das zwiespältige Verhalten der Ukrainer während der Zeit der deutschen Besatzung nach: Ein irrwitziges Rollenspiel zwischen Erniedrigung und Demütigung. Mit der Mischung aus Experiment, Humor und Selbstironie, die die Ausstellung auffächert, entsteht das Bild eines der vielseitigsten europäischen Fotokünstler.

Seine Popularität hierzulande gründete sich darauf, dass er das Phänomen Niedergang Ost erfahrbar machte, zugleich aber auf Abstand hielt. Umso irritierender ist nun die Erfahrung, wie kompatibel der „realistische“ Blick, den Mikhailov auf seine Landsleute hat, mit den Verhältnissen im Westen ist. Seit er 2001 an die Spree zog und dort ein Atelier unterhält, fotografiert er in seinem Langzeitprojekt „Berlin“ die Menschen in der Stadt.

In Mikhailovs jüngsten Bildern mag man seine etwas formalistische Selbstdefinition belegt finden, nach der er sich der „Untersuchung und Erforschung von Raum und Zeit, vom Menschen und dem Milieu, in dem er sich befindet“ widmet. Selbst wenn sie nicht in Baumstümpfen hausen; die Drastik der Existenz scheint auch den Spießer-Deutschen in schlecht sitzenden Windjacken oder den Menschen, der die verbeulten Kartons eines gerade beendeten Flohmarkts durchwühlt, nicht fremd. Wer genau hinschaut, bemerkt den Doppelsinn des Ausstellungstitels: Irgendwie ist auch in Wilmersdorf die Zeit aus den Fugen.

■ Boris Mikhailov: „Time is out of joint“. Berlinische Galerie. Noch bis zum 28. 5. 2012. Katalog, Distanz-Verlag, 176 S., 24 80 Euro