„Am Ende des Drehs hatte ich kräftige Oberarme“

KAMERAFRAU Sie filmt Körper wie niemand sonst und schafft Bilder, von denen man denkt, man könne sie anfassen. Ein Gespräch mit Agnès Godard

■ Ausbildung: geb. 1951 in Dun-sur-Auron, Département Cher, Frankreich. Ihr Vater, ein Tierarzt, ist leidenschaftlicher Fotograf. Durch ihn entdeckt sie ihre Faszination für Bilder. Sie studiert Journalismus, bevor sie sich 1976 an der Filmhochschule IDHEC in Bry-sur-Marne einschreibt. 1980 legt sie ihren Abschluss ab.

■ Assistenzen: Sie arbeitet zunächst als Henri Alekans erste Kameraassistentin für „Der Stand der Dinge“ (1982) von Wim Wenders, assistiert Robby Müller für „Paris, Texas“ (1984), außerdem bei Filmen von Peter Greenaway und Alain Resnais. Als alleinverantwortliche Kamerafrau ist sie zum ersten Mal für Wim Wenders’ „Room 666“ (1982) tätig, eine 50-minütige Fernsehdokumentation.

■ Zusammenarbeit: An Claire Denis’ Spielfilmdebüt „Chocolat“ (1988) ist sie als Kameraoperatorin beteiligt. Als Kamerafrau an „Beau Travail“ (1999), „Trouble Every Day“ (2001) und „L’intrus“ (2004). Sie arbeitet zudem mit André Téchiné, Emanuele Crialese und Érick Zonca zusammen. Zuletzt auch mit der jungen Westschweizer Filmemacherin Ursula Meier – „Home“ und „L’enfant d’en haut“ (gezeigt im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale, ab Spätsommer in den Kinos).

INTERVIEW CRISTINA NORD

sonntaz: Frau Godard, der jüngste Film, an dem Sie beteiligt waren, „L’enfant d’en haut“ von Ursula Meier, spielt in den Schweizer Bergen. Wie sind Sie auf diese Landschaft zugegangen?

Agnès Godard: Es ist der erste Film, den ich digital gedreht habe, deswegen habe ich mir viele Fragen technischer Art gestellt. Und ich habe darauf bestanden, Probeaufnahmen zu machen, weil ich ahnte, dass es Schwierigkeiten geben würde.

Welche denn?

Der digitale Bildsensor nimmt Infrarotstrahlung auf, das führt zu Farbverzerrungen. Oder die Menge von Licht auf dem Schnee. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nicht so viel Licht gemessen, nicht mal in Dschibuti, als ich in der Salzwüste gedreht habe. Der Schnee ist wie ein Spiegel, und auch die Luft ist anders.

Wegen der Höhe?

Ja. Ursula Meier und ich haben viel über die Landschaft geredet; sie durfte auf keinen Fall wie auf einer Postkarte oder zu anziehend aussehen. Sie ist ein falsches Paradies, das hat sie im Drehbuch so angelegt.

Nach „L’enfant d’en haut“ werden Sie weitere Filme digital drehen?

Im Sommer habe ich in Griechenland schon einen weiteren gedreht, diesmal nicht in den Bergen, sondern am Meer, und ich bin kurz davor, in Mexiko zu drehen. In den vergangenen Jahren ist sehr schnell sehr vieles passiert, man hat kaum noch die Möglichkeit, auf Film zu drehen. Ich hoffe, dass ich es ab und zu noch tun kann.

Was geht denn bei dieser rasanten Entwicklung verloren?

Wenn ich sehr melancholisch bin, dann sage ich: Wir haben die Ungenauigkeit von 35 mm verloren, die Poesie des Films, diese besondere Form der Begegnung zwischen Mensch und Bild. Man kann diesen Verlust betrauern, aber wenn man positiver eingestellt ist, kann man auch fragen, was man gewonnen hat. Und Kino heißt ja, dass man Filme und Bilder macht, Bilder, die etwas sagen, die eine Rolle spielen. Und das ist ja keine Frage der Technik, sondern der Ideen, die haben wir nicht verloren.

„L’enfant d’en haut“ ist nach „Home“ der zweite Film, den Sie mit Ursula Meier gedreht haben. Wie haben Sie sich kennengelernt?

Während Ursula „Home“ vorbereitete, hat sie den Produzenten gefragt, was er davon halte, mir den Film anzutragen. Also hat mich die Produktionsfirma angerufen und mir das Drehbuch geschickt. Ich hab’s sofort gelesen und fand es toll, es war Liebe auf den ersten Blick. Ursula und ich haben uns dann verabredet, wir haben viel geredet und viel Zeit miteinander verbracht. Und nach dem Dreh hat sie gesagt: „Sobald ich einen zweiten Film plane, rufe ich dich an.“

Wie wählen Sie die Regisseure aus, mit denen Sie arbeiten? Bedarf es eines besonderen Drahts?

An erster Stelle steht das Drehbuch. Wenn ich das Drehbuch von „Home“ oder „L’enfant d’en haut“ lese, dann begegne ich einem so außergewöhnlich starken fiktiven Universum, dass es ein Versprechen ist. Die Begegnung mit Ursula zählt natürlich auch – aber das Filmprojekt steht am Anfang.

Ihre Zusammenarbeit mit der Regisseurin Claire Denis ist außergewöhnlich, was Intensität und Dauer angeht. Wie würden Sie diese Zusammenarbeit beschreiben?

Als eine wirkliche Begegnung und eine große Chance. Wir haben etwas begründet, indem wir gemeinsam nach etwas gesucht haben, und das hat uns beiden geholfen, Dinge zu finden. Und es ist eine leidenschaftliche Beziehung von Mensch zu Mensch. Diese Beziehung wird immer erhalten bleiben, sie lässt sich nicht ersetzen. Nun wird man sehen, was geschieht. Wir müssen weitermachen … Aber ich stelle mir gerade nicht die Frage, ob es weitergeht oder nicht.

Warum waren Sie an Denis’ letztem Spielfilm, „White Material“, nicht beteiligt?

Ich wollte nicht in Afrika drehen, sondern in Frankreich bleiben, weil meine Mutter im Sterben lag.

Was mich besonders beeindruckt an den Filmen, die Sie gemeinsam mit Claire Denis gedreht haben, ist, wie Sie Körper und Landschaften filmen.

Das geht eigentlich gar nicht von einer intellektuellen Reflexion aus, eher von Claires zweitem Film, „S’en fout la mort“. Sie wollte, dass wir das mit einer Handkamera machten, weil das zum Sujet passte. Und sie dachte an 16 mm, weil ich keine 35-mm-Kamera tragen könnte. Mich dagegen reizte es, das zu versuchen, auf der Schulter, mit 40er-, 50er-Objektiven, weil das dem menschlichen Blick nahekommt. Ich habe vorgeschlagen, Probeaufnahmen zu machen, und dabei hat sich herausgestellt, dass ich körperlich dazu in der Lage war. Und dabei ist dann diese Körperlichkeit entstanden, besonders bei den Hahnenkämpfen, und ich frage mich, ob das nicht der Ursprung dieser Einfachheit ist. Mit der Kamera auf der Schulter denkt man weniger an die Kadrierung, man geht stattdessen ins Bildzentrum.

„Man hat eine leidenschaftliche Beziehung zum Kino, gewalttätig, lodernd, es ist alles, oder es ist nichts“

Man wird Teil der Aktion?

Ja, ein bisschen, es wird alles sehr konzis und unmittelbar. Die Kamera ist ein wenig wie eine Filmfigur, die man niemals sieht. Körperlich ist das in der Tat ganz schön hart.

Es gibt ein Foto, das Sie am Set von „Beau Travail“ in Dschibuti zeigt. Ihre Oberarmmuskulatur ist beeindruckend – fast wie die der Darsteller, die im Film durchtrainierte Fremdenlegionäre spielen.

Ich hätte nie und nimmer die Trainingseinheiten absolvieren können, die die Schauspieler absolvierten! Über diese Betonmauern zum Beispiel hätte ich nie springen können. Aber Sie haben recht, am Ende des Drehs hatte ich kräftige Oberarme.

In einer Szene von „Beau Travail“ springen die Figuren in diese 2,50 Meter tiefe Grube, auf der anderen Seite klettern sie wieder hoch. Ich habe mich gefragt, ob da ein Podest stand, das ihnen geholfen hat und das wir nicht sehen konnten.

Aber nein! Sie waren einfach richtig gut in Form. Ich hätte das nie machen können. Ich liebe es, die Unsicherheit, die ich meiner Arbeit gegenüber empfinde, in der körperlichen Verausgabung aufzulösen. Man hat ja manchmal große Angst, man fragt sich, ob einem etwas gelungen ist oder nicht, und diese Angst lässt sich durch die körperliche Anstrengung kanalisieren.

Bei „Beau Travail“ schauten Sie während des Drehens keine Muster an. Sie wussten nicht, ob aus dem Material ein Film werden würde oder nicht. Gehören Risiko und Gefahr zu Ihrer Arbeit?

Ja. Man hat eine leidenschaftliche Beziehung zum Kino, gewalttätig, lodernd, es ist alles, oder es ist nichts. Aber man kann nicht die ganze Zeit über so schwärmerisch sein, es gibt Augenblicke des Zweifelns. Zu zweifeln muss ja nichts verhindern, sondern führt dazu, dass man sich Fragen stellt. Wenn man sehr hartnäckig nach etwas Bestimmtem sucht, heißt das, dass man es entweder findet oder nicht. Aber letztlich findet man nie das, was man sucht. Vielleicht war es deshalb gut, dass wir uns bei „Beau Travail“ nie angesehen haben, was wir gedreht hatten. Denn möglicherweise hätten wir uns gesagt: Das geht so nicht. Das ist ja wahnsinnig. Es ist sehr schwierig, sich seiner selbst und der eigenen Arbeit sicher zu sein, und vielleicht ist es das, was die Zusammenarbeit mit Claire so besonders macht: Wir sind beide unruhige Menschen, und genau das hat uns angeregt; wir haben gelernt, gemeinsam etwas aus unseren Zweifeln zu machen. Auch in der Zusammenarbeit mit Ursula Meier gibt es Zweifel, aber sie verteilen sich auf andere Weise, als hätte sich der Ort, den der Zweifel in unserer Zusammenarbeit einnimmt, verschoben.