Ein Leben in Nuancen

NACHRUF Antonio Tabucchi ist tot

Auf großen Podien neigte er dazu, fast zu verschwinden – und konnte gerade dadurch die Zuschauer für sich einnehmen. Bleibenden Eindruck hinterließ zum Beispiel Antonio Tabucchis Auftritt in Berlin Ende der neunziger Jahre, also kurz nachdem sein großer Romanerfolg „Erklärt Pereira“ auf Deutsch erschienen war. Ein schmächtiger Mann saß da im Haus der Kulturen der Welt, er hatte nur noch dünnes Haar, und Literaturliebhaber raunten sich zu, dass allein der Hut fehle, um Tabucchi zu einem perfekten Wiedergänger Fernando Pessoas werden zu lassen, des portugiesischen Klassikers der Moderne schlechthin, den der Italiener Tabucchi so verehrt und als literarischen Lehrer und Spiegel benutzt hat.

Bemerkenswert auch die übrigen Umstände dieses Abends. Die Zeitschrift Lettre hatte ein halbes Dutzend Autoren aufgefordert, Reisereportagen zu schreiben, Tabucchi hatte den Abgabetermin verpasst, war zunächst auch gar nicht für den Abend vorgesehen gewesen, dann aber, als ein Kollege erkrankte, kurzfristig eingesprungen. Allerdings war sein Manuskript mitsamt seinem Koffer beim Umsteigen auf dem Flughafen von Düsseldorf liegen geblieben. Also musste Tabucchi als Vertretung auf dem Podium über eine Reportage sprechen, die niemand im Publikum kannte und die er auch selbst gar nicht vor sich hatte. Das aber war eine Situation, wie er, der literarisch gern mit vielen Brechungen erzählte, sie selbst hätte ausdenken können. „Tabucchis Geschichten sind unauffällige Geschichten, in denen die Menschen mehr durch das Leben getragen werden, als dass sie selbst gingen, immer leicht erstaunt über das, was ihnen zustößt“, hieß es nach diesem Auftritt in der taz.

Klar, dass so ein Meister der Zwischentöne wie der 1943 geborene Tabucchi von der protzenden Korruption eines Politikers wie Silvio Berlusconi angewidert sein musste. Überraschend zunächst aber doch, wie vehement sich dieser in seiner Prosa eher melancholische Autor als öffentlicher Intellektueller gegen sie wehrte.

So leise und zurückhaltend viele seiner Bücher geschrieben sind, von den frühen Erzählungen „Kleine Missverständnisse ohne Bedeutung“ bis zur letzten großen Prosaarbeit, „Tristano stirbt“, so direkt waren die Artikel, die Tabucchi gegen Ausländerfeindlichkeit und den politisch-medialen Komplex Italiens schrieb. Aber natürlich gehören die beiden Schreibweisen zusammen – als zwei Seiten einer Autorenschaft, die sich ein Leben in Differenzen und Nuancen herbeigeschrieben hat.

Am vergangenen Sonntag ist Antonio Tabucchi nach langer Krebserkrankung 68-jährig in Lissabon gestorben. DRK