Lakonisch, grau und menschenleer

DAS BIOTOP BERLIN 1989/90 Unbestimmte Ecken, kahle Wände, bisschen Abstandsgrün: Die Galerie Nordenhake zeigt Fotografien von Michael Schmidt, der sich mit emphatischer Sensibilität sprödem Beton widmete

Dass eine Mauer plötzlich fehlt, fällt in Schmidts Berlin nicht groß ins Gewicht

VON RONALD BERG

Graue Wände, graue Mauern, graue Häuser, graue Winkel im Irgendwo, mal mit etwas Abstandsgrün – pardon: Abstandsgrau – und Spielplatztristesse. Mal gibt es Autoschrott, mal Müllberge, nur manchmal etwas amorph Pflanzenhaftes im menschenleeren Niemandsland des Alltagseinerleis. Grau, gräulich, grauenhaft, grausam. Ist es eigentlich Zufall, dass die Assoziationen zur Farbe Grau wie zwangsläufig ins Negative abdriften müssen?

Für Michael Schmidt jedenfalls sind die delikaten Graustufen in der Silbergelantine des klassisch-analogen Fotoabzugs das Mittel erster Wahl. Dem Fotografen geht es um Realismus. Da passt Grau gut, besonders wenn es um das Bild von Berlin geht. Schmidt ist 1945 geboren und in Kreuzberg aufgewachsen, später dort als Polizist auch Streife gelaufen. Zur Fotografie kam er als Autodidakt Mitte der Sechziger, ein paar Jahre später begann er an der VHS Kreuzberg Fotografie zu unterrichten und machte den Ort zum Hotspot der künstlerischen Fotografie in der Stadt.

Sinnbild für den Stillstand

Mit Berlin als Thema war Schmidt nach eigenem Bekunden Ende der Achtziger eigentlich durch. 1987 erschien „Waffenruhe“, ein Sinnbild für den Stillstand in der eingemauerten, immer noch halb kriegsversehrten, halb zubetonierten Mauerstadt Berlin (West). Das Buch machte Schmidt zum Star. Das MoMA in New York zeigte ihn als ersten lebenden deutschen Fotografen in einer Soloshow.

Doch 1989/90 war es mit der Ruhe in Kreuzberg vorbei. Die Mauer ging auf und zerbröckelte in rasender Schnelle unter Hämmern, Baggern und dem Erwartungsdruck der Menschen, dass ohne Mauer alles besser würde. Es ist exakt dieser weltgeschichtliche Moment, den Michael Schmidt nun in einer Serie seiner Aufnahmen aus der damaligen Zeit vorstellt. Dass Schmidt das Thema aus dem Archiv herauskompiliert hat, zieht eine zusätzliche Ebene ein. Der Blick von damals und die Perspektive von heute verschränken sich.

Von der Wende und den Erwartungen sieht man auf Schmidts Bildern nichts. Ein zerbröckelnder Wachturm, ein paar demontiert herumstehende Mauerteile, zerborstener Beton mit wild sich schlängelnden Armiereisen auf dem ehemaligen Todesstreifen am Springerhochhaus: So lakonisch und menschenleer stellt Schmidt die Zeit vor. Doch sehen die dem Untergang geweihten Grenzrelikte nicht viel anders aus als die Schrotthalden andernorts oder die fensterlosen Rückseiten im sozialen Wohnungsbau samt der dazubetonierten Parkpaletten.

Schmidts Berlin um 1989/90, ob Ost oder West, ist ein Ort der Mauern geblieben. Dass eine plötzlich fehlt, fällt dabei nicht groß ins Gewicht. Doch im zeitlichen Abstand scheint Schmidts westlicher Blick auf die Wendezeit an Plausibilität nur zu gewinnen. Von heute aus gesehen, waren der Untergang des real-existierenden Kommunismus von 89/90 durch den Fall der Mauer als Ereignis weniger gravierend als der Umbau Berlins durch den grassierenden Kapitalismus, der danach folgen sollte.

Von Umbau und Gentrifizierung innerstädtischer Quartiere war am Wendepunkt der Geschichte noch nicht viel zu spüren. Was Schmidt 89/90 fotografiert hat, ist ja auch weder die Dokumentation einer Stadtlandschaft noch die Reportage eines historischen Geschehens, sondern eine Stimmungslage. Keine der unbestimmten Ecken auf den Fotos der 37-teiligen Serie von „89/90“ ist mit Titel oder Ortsangabe versehen. Das Berlinische an ihnen ist mehr atmosphärisch.

Banalität in Ost und West

Die knappen Ausschnitte bei den Motiven lassen eine eindeutige Lokalisierung im Stadtplan nicht zu: eine Reklametafel von hinten, eine kahle Häuserecke oder ‚Unkraut‘ hier und dort. Selbst die Zuordnung in Ost und West ist unmöglich. In der Banalität von gesichtslosen Plattenbauen gleicht der Osten den innerstädtischen Grenzgebieten entlang der Mauer im Westen ziemlich genau – und umgekehrt.

Die historische (Re-)Konstruktion der Berliner Situation von 89/90 fällt bei Michael Schmidt also überraschend aus: Aus der Perspektive des Fotografen ist mehr eine Art ästhetisches Biotop verloren gegangen. Schmidt konnte dieser grau-gräulichen Lebenswelt trotz seiner Dürftigkeit Bilder abgewinnen, die ästhetisch von subtilem Reiz sind, wo im Rauen und Spröden von Beton und Wildwuchs malerische Bildqualitäten aufscheinen, die an Konstruktivismus und Informell denken lassen. Solches Sehen bedarf der intimen Nähe und der empathischen Sensibilität mit dem Ort. Und es ermöglicht offenbar Erkenntnisse, die den normalen Historiografen sonst entgehen.

■ Galerie Nordenhake, Lindenstr. 34, Di.–Sa. 11–18 Uhr. Bis 21. April