Der Skorpion verbrennt sich selbst

FILMPREMIERE Jessica Krummachers Spielfilmdebüt „Totem“ verhandelt das Erwachsenwerden und setzt dabei auf realistisches Körperkino und mythische Referenzen. Heute läuft er in der Volksbühne

Beiläufig gleitet der Film in den Modus eines surrealen Albraums über

von CLAUDIA LENSSEN

Einfamilienhäuser, diese trügerischen Wohlstandsbiotope, sind eine ideale Bühne für fatale Geschichten. Man kennt die Sorte monotoner Privatburgen aus deutschen Filmen: verschlossene Fenster, ein pedantisch gehegter Garten, innen Wohnzimmerplüsch und bunte Fliesen. Typen, die nicht miteinander können, aber auch nicht voneinander lassen, bunkern sich in solch einem Ambiente ein.

„Totem“, Jessica Krummachers Abschlussfilm an der Münchener Hochschule für Film und Fernsehen, dreht die vermeintlich abgenutzten Schrauben des Erzählmusters mit überraschendem Sinn für den magischen Horror ungelöster Familienbeziehungen weiter. Friedrich Schillers „Aber immer blieb‘s verborgen/ Was ich suche, was ich will“ sind ihr Motto.

Auf den ersten Blick eine schauspielerisch präzise improvisierte Studie über die Ausbeutung moderner Haushaltssklaven, gleitet der Film beiläufig in den Modus eines surrealen Albtraums über. Die junge Frau, die fremd in das Haus des Bauers kommt, scheint deren Bann unter Frustrationen, Verletzungen und Tabus nicht nur vergrößernd zu spiegeln, sondern selbst darin aufzugehen.

Stillgelegte Tableaus

Fiona (Marina Frenk) trifft als Au-pair-Mädchen, Köchin und Putze auf die vierköpfige Familie, die einen düsteren Kubus in Bochum bewohnt. Claudia (Natja Brunckhorst) leidet launisch an frühen Wechseljahrsymptomen und kompensiert ihren späten Kinderwunsch mit Babypuppen, die Fiona bald im Zwillingskinderwagen spazieren fährt, als brauchten sie tatsächlich frische Luft. Teenager Nicole (Alissa Wilms) schleicht als arrogante Prinzessin durchs Haus. Jürgen, der jüngste (Cedric Koch), braucht Fionas Begleitung zum Schwimmunterricht, da das Haus durch Wald und eine Schnellstraße von der Zivilisation getrennt ist. Vater Wolfgang (Benno Ifland) pendelt zwischen übergriffiger Direktheit und ablehnendem Schweigen; lieber kümmert er sich um die Hasen als um seine Frau.

Die Fremde, die sich von der eigenen Familie abgesetzt zu haben scheint, muckt zwar trotzig gegen die Allüren ihrer Herrschaft auf, arbeitet jedoch willig das gewaltige Pensum ab, das man ihr zumutet. Ersatzvater Wolfgang will Fiona loswerden, als er von ihr zu träumen beginnt, doch die junge Frau wehrt sich dagegen. Die Ersatzmutter reagiert eifersüchtig, schmiegt sich dennoch im Tanz an den jugendlichen Körper.

Einsame Gänge im Wald, durch Tunnel und totes Gelände künden von Fionas Spannung, ihrer Verstrickung in die latent inzestuöse Situation. Doch aus der Abhängigkeit findet sie nur mit selbstzerstörerischer Konsequenz heraus. Der Skorpion, das Totem-Tier, von dem der kleine Jürgen erzählt, verbrennt sich selbst mit seinem Gift, bevor ihn das Feuer seiner Umgebung erfasst.

Statt auf küchenpsychologischen Mainstream vertraut Jessica Krummacher auf die Verschmelzung von realistischem Körperkino und vieldeutigen mythischen Referenzen. Stillgestellte Tableaus zeigen das Ruhrgebiet als böses Totenreich, subjektive Bewegungsbilder öffnen zwar immer wieder Fluchtwege, doch die Protagonistin verläuft sich in ihnen wie im Labyrinth. „Totem“ stellt radikal die Frage nach dem Erwachsenwerden.

■ „Totem“, Regie: Jessica Krummacher, mit Marina Frenk, Natja Brunckhorst u. a., Deustchalnd 2011, 86 Min.; Premiere heute, 21 Uhr , Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, regulär im Kino ab 26. April