Kolumne Knapp überm Boulevard: Nicht Rache, sondern Recht

Das Gericht ist ein Theater, in dem das Drama des Verbrechens noch einmal inszeniert wird: Der Prozess gegen Anders Breivik lindert das kollektive Trauma.

Wozu braucht es einen wochenlangen Prozess gegen Anders Breivik? Die ganze Welt weiß, was er getan hat. Man schreibt noch „mutmaßlicher“, aber er ist der eindeutige Täter. Er hat sich zu den Taten bekannt. Wozu also dieser Aufwand, wenn die Schuldfrage geklärt ist? Bei Prozessbeginn hat die Staatsanwältin die Namen aller Opfer verlesen. 45 Minuten lang. Sie nannte die Zahl der Schüsse und die Verletzungen, die sie jeweils verursachten. Dieser Prozess dient nicht der Wahrheitsfindung, denn die Wahrheit ist bekannt. Dieser Prozess dient der Traumabearbeitung.

Die kürzlich jung verstorbene Theoretikerin Cornelia Vismann hat ein Buch hinterlassen, in dem sie zeigt, dass das Gericht auch ein Theater ist, in dem das Drama des Verbrechens noch einmal inszeniert wird. Der Gerichtssaal ist eine Bühne, auf der die unsägliche Tat zur Sprache gebracht wird. Diese Nacherzählung der Tatsachen braucht es nicht nur zur Klärung der Schuldfrage, sondern eben auch, um das Trauma des Rechtsbruchs zu bewältigen.

Selten war dies so eindeutig wie in diesem Fall. Der Prozess gegen Anders Breivik ist ein ritueller Akt. Hier wird kollektiv ein traumatisches Ereignis nacherzählt. Das kann das private Trauma der Opfer und der Angehörigen nur bedingt lindern, aber das kollektive Trauma dieses Angriffs kann es bewältigen helfen.

Dieses Verbrechen hat gezielt eine ganze Gesellschaftsordnung herausgefordert. Deshalb bedarf es einer gesellschaftlichen Antwort. Die Erzählung des Tathergangs, das Verlesen der Opfernamen in diesem rechtsstaatlichen Rahmen ist genau solch eine Antwort: Traumabewältigung und Bekräftigung des Rechtsstaates in ein und demselben Vorgang. Nur durch solch eine rechtsstaatliche, durch solch eine demokratische Antwort kann sich die angegriffene Gesellschaft konsolidieren. Das ist genau das, was bei der Tötung bin Ladens verabsäumt wurde.

Prozess als ritueller Akt

Bekommt Breivik so eine Bühne, um seine Parolen zu verbreiten? Nein, bekommt er nicht. Zum einen diskreditiert er alles, was er sagt, selbst für ihm Geneigte – indem er es sagt, wird es zur Antiwerbung für Ausländerfeindlichkeit. Zum andern aber ist dieser Prozess, in seiner Öffentlichkeit, ein demokratischer „Gegenangriff“ – Gegenangriff in Anführungszeichen, da diese Reaktion eben kein Angriff ist. Was hier eine Bühne bekommt, ist nicht Breivik, sondern die demokratische Rechtsordnung! Dieser Prozess ist ein unglaublich zivilisatorischer Akt.

Eine demokratische Gesellschaftsordnung kann eine Feinderklärung nicht annehmen. Deshalb hat auch der selbsternannte Feind Anspruch auf juristischen Beistand. Der Pflichtverteidiger Geir Lippestad versteht seine Funktion sehr genau: Jedes Komma der Rechtsordnung muss befolgt werden, um den Angriff auf die Gesellschaft zu überwinden. Und wenn der Anwalt sagt, er habe bei diesem Fall seine Seele verschenkt, und er sei sich nicht sicher, ob er sie unbeschadet zurückerhalte, dann ist das sehr hellsichtig.

Überwindung des Angriffs

Man möchte nicht in die emotionale Verlegenheit kommen, diesem Attentäter nicht als Gegner näher zu kommen. Und egal wie eitel Lippestad sein mag, man muss ihm dankbar sein, dass er – gerade ohne jede ideologische Nähe – das Opfer auf sich nimmt (wie früher der Henker, der die Rechtsordnung ausgeführt, selber aber verfemt war).

Die demokratische Rechtsordnung hat keine adäquate Antwort auf Feinderklärungen. Aber sie hat etwas viel Besseres, sie hat eine inadäquate Antwort: nicht Rache, sondern Recht. Dafür steht auch die Geschichte jenes Schöffen, der kurz nach dem Attentat gepostet hat, solch ein Verbrechen verdiene die Todesstrafe. Und obwohl diese Reaktion emotional verständlich ist und obwohl es in Norwegen keine Todesstrafe gibt, wurde er sofort ausgetauscht. Das war absolut richtig – nicht wegen der Vorverurteilung, sondern weil er das Prinzip der Feindschaft übernommen hat. Das hat ihn als Laienrichter disqualifiziert. Es gibt auch keine adäquate Strafe. 21 Jahre, meinte Breivik, seien eine „erbärmliche Strafe“. Es ist eine inadäquate Strafe.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.