Lüneburg versackt: Auf schwankendem Boden

In der ehemaligen Salzstadt sinkt an manchen Stellen die Erde ab. Ein Haus im alternativen Wohnviertel Frommestraße ist akut einsturzgefährdet.

Alternativkultur vor dem Verschwinden: Frommestraße in Lüneburg. Bild: dpa

LÜNEBURG taz | Wenn die 26-jährige Anne in ihrer WG etwas kochen möchte, dann sammelt sich das Öl am unteren Rand der Pfanne. Beim gemeinsamen Essen hatten Mitbewohner schon nasse Füße, weil verschüttete Getränke auf dem Boden in ihre Richtung liefen. Und wenn es Suppe gibt, darf der Teller nicht zu voll sein, sonst schwappt er über, wenn er auf dem Küchentisch steht.

Das Leben in der Frommestraße ist schräg, das sieht man auch von außen. Die beiden Häuser mit den Nummern vier und fünf sind in Richtung Straße gekippt, die Nummer fünf bewegt sich zusätzlich nach rechts. Zwischen den Verankerungen der Balkone stehen Stützpfeiler, von weiten erinnern sie an die Kreuze der Anti-Atomkraftbewegung.

In dem Park vor den Häusern führt ein Mann seine Hunde spazieren. Er beobachte die Gebäude regelmäßig, sagt er. Vor ein paar Monaten habe er noch eine Regenrinne hinter einem Erker erkennen können. Jetzt sei nichts mehr zu sehen, ein Teil des Hauses habe sich davor geschoben.

Weil in Lüneburg jahrhundertelang Salz abgebaut wurde, haben sich unterirdische Hohlräume gebildet. Über denen senken sich nun Boden und Gebäude. Auch die Frommestraße ist betroffen. 2011 hätten sich die Häuser dort um bis zu acht Zentimeter abgesenkt, sagt die Stadtbaurätin Heike Gundermann.

Die Schräglage ist zu einem Sicherheitsrisiko für die 26 Bewohner des Hauses Nummer fünf geworden. Ein Gutachten hat ergeben, dass das Gebäude aus der Gründerzeit akut vom Einsturz bedroht ist. Spätestens in 12 Wochen müssten alle Mieter ausgezogen sein, sagt Gundermann.

Da der Hauseigentümer in Lateinamerika untergetaucht ist, muss die Stadt sich um den Auszug kümmern. Am Dienstag vergangener Woche hatten Mitarbeiter die Mieter mit einem Schreiben informiert. Sie warfen die Zettel in die Briefkästen und klebten sie an die Türen des Gebäudes. Eine Stunde später begannen Zimmerer damit, die Kellerdecke mit Balken abzustützen. In den Wohnungen befestigten sie die Fenster und Türen mit Holzrahmen.

Diese Abstützungen sichern das Haus nur für kurze Zeit. „Sie verhindern, dass einzelne Teile des Gebäudes abstürzen“, sagt der Statiker Christian Mädge, der das Gebäude untersucht hat. Trotzdem bestehe noch die Gefahr, dass die Kellerdecke wegrutsche. Die Folge wäre ein Gesamteinsturz.

Die Bewohner sind von dem Ergebnis des Gutachtens geschockt. „Unser Haus ist zwar schief, in früheren Gutachten wurde ihm aber immer Standsicherheit attestiert“, sagt Anne. Das weitere Vorgehen und mögliche Lösungen würden die Bewohner nun regelmäßig Häuser-übergreifend besprechen, sagt Mitbewohner Dag.

In Lüneburg ist die Gegend um die Frommestraße als alternatives Wohnviertel bekannt. Vor allem junge Leute wohnen hier seit Jahrzehnten in Wohngemeinschaften. „Love“ hat jemand auf vier Garagentore gesprüht, regelmäßig gibt es hier eine Suppenküche. Im Sommer werfen Bewohner Filme an die Hauswand und laden zum Gratis-Freilichtkino.

Das Leben in der Frommestraße sei etwas ganz Besonderes, sagt Mitbewohner Moritz. Wer hier lebe, verstehe sich als Gemeinschaft. „Wir kennen uns alle untereinander, da sind tiefe Freundschaften entstanden“, sagt Anne. Bereits im vergangenen Jahr ist ein leer stehendes Haus in der Frommestraße abgerissen wurden. Die Anwohner hatten das Gebäude wochenlang besetzt und gefordert, in den Räumen ein Kulturzentrum einzurichten.

Der Abriss droht nun auch den Häusern vier und fünf. Das Haus Nummer vier ist zwar nicht akut einsturzgefährdet. Die für die Standsicherheit nötigen Umbaumaßnahmen will der Besitzer Jürgen Sallier, ein Lüneburger Immobilienmakler, aber nicht bezahlen. Im Februar hat er allen Bewohnern fristlos gekündigt. Auch für die Fünf gibt es keinen Investor. „Wir reden hier von Millionen die aufgebracht werden müssten“, sagte der Lüneburger Oberbürgermeister Ulrich Mädge auf einer Anwohnerversammlung am Freitag vergangener Woche.

Die Bewohner der Nummern vier und fünf hatten gefragt, ob sie nicht alle zusammen in ein Haus ziehen könnten, doch diesen Wunsch könne er nicht erfüllen, sagte Mädge. „Ich habe im Moment kein leer stehendes Gebäude für so viele Personen.“ Er habe jedoch mit Wohnungsbaugesellschaften gesprochen, die den Mietern neue Wohnungen stellen wollten.

Die Bewohner wirken enttäuscht, eine junge Frau weint. „Warum hat die Stadt nie persönlich mit mir gesprochen“, fragt eine Mieterin. Sie wohnt seit sieben Jahren in der Frommestraße. Viele Bewohner befürchten, dass die Häuser abgerissen werden, um lukrativere Wohnungen zu bauen. „Können sie uns versichern, dass dort keine Neubauten entstehen?“, fragt ein Anwesender den Oberbürgermeister. Wenn die Senkungserscheinungen weniger würden, könne das schon passieren, antwortet der. Für das Haus Nummer vier ist bereits ein Antrag gestellt worden, es aus dem Denkmalschutz zu entlassen.

Am Freitagabend brennt auf der Frommestraße vor den Garagen noch lange ein Lagerfeuer. „Safe our Street“ steht auf einer der Feuertonnen.

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