Und wenn die Kopplungen versagen?

GESELLSCHAFTSPROGNOSTIK Die Frankfurter Römerberggespräche stocherten in diesem Jahr in dem Modethema „Postdemokratie“. Licht in das Begriffsgebäude konnten sie aber auch nicht bringen

Die Frankfurter Römerberggespräche waren am vergangenen Samstag dem Thema „Postdemokratie. Haben wir noch die Wahl?“ gewidmet. Die Wortschöpfung „Postdemokratie“ zehrt von einer Voraussetzung, die das Wort selbst dementiert. Alle Begriffe von „Postmoderne“ über „Postsozialismus“ bis „Postdemokratie“ unterstellen ein Ende – meistens das Ende der großen Theorien und „Erzählungen“. Insofern sind diese Begriffe geschichtsphilosophisch, also spekulativ, imprägniert und setzen voraus, was sie bestreiten. Insofern stehen sie der Theologie näher als der Gesellschaftsanalyse und -kritik.

Theoretisch wie praktisch-politisch hat sich das „Post-Gerede“ erledigt und selbst widerlegt. Das gilt für den Traum des marktradikal-neoliberalen „homo oeconomicus“ ebenso wie für den stalinistischen „neuen Menschen“ oder den „deutschen Menschen“ der Nazis. Die modische Rede von „Postdemokratie“ verweigert sich dieser trivialen Einsicht und behauptet grobianisch, das Zeitalter der Demokratie sei vorbei. Sie maßt sich damit ein privilegiertes Wissen über die Zukunft an, obwohl noch nicht einmal ausgemacht ist, ob das, was heute als Demokratie gilt, schon Demokratie ist oder gar ihr Endstadium.

Von den neun Referenten meldete einzig Franziska Augstein grundsätzlichen Einspruch gegen das Begriffsgebräu „Postdemokratie“ an. Der Hamburger Philosoph Martin Saar verpasste die Chance einer Begriffsklärung. Seine Antwort auf die Frage „Was ist Postdemokratie?“ fiel rundum affirmativ aus. Ohne den Hauch empirisch belastbarer Belege für das Konstrukt unterschied er einzig zwei gleichermaßen positive Varianten von „Postdemokratie“ – die sozialdemokratische von Colin Crouch, der mit der Stärkung der Zivilgesellschaft die Postdemokratie therapieren möchte.

Dagegen steht die radikaldemokratische These des französischen Philosophen Jacques Rancière, der für einen Systemwechsel von der vermeintlichen „Postdemokratie“ zu einem demokratischen Neubau plädiert. Gabor Demszky, ehemaliger Bürgermeister von Budapest und ungarischer Menschenrechtler im kommunistischen Ungarn, verglich seine ehemalige Untergrundarbeit mit der neuen Opposition, deren Gegner die alte Nomenklatura und die Neureichen sind, die sich in einer „Allianz zur Privatisierung von Staatseigentum“ verbündet haben und die junge Demokratie demontierten, bevor sie sich entfalten konnte.

Eine zentrale Rolle spielt die Demokratisierung in den Ländern der arabischen Rebellionen. Der Ägypter Karim El-Gawhary, ORF-Korrespondent in Kairo, informierte aus erster Hand über den Stand und die Aussichten der Demokratie in Nordafrika. Gegen die westlichen Medien, die fast täglich Ergebnisse der Revolution einklagen, vertrat er die These, dass die Revolution noch gar nicht begonnen habe. Neunzig Prozent der Parlamentarier sind politische Neulinge. Die westliche Erwartung an einen demokratischen Masterplan sind abwegig. Es geht nicht nur um Verfassungsfragen, sondern vor allem auch um „die soziale Frage“. Nur wenn dieser „Sprengstoff“ – so El-Gawhary – entschärft werde, komme eine politische Demokratisierung überhaupt erst ins Blickfeld.

Das Gerede über „investigativen Journalismus“ und „Qualitätsjournalismus“, so Augstein in einer temperamentvollen Intervention, verdecke nur die verpassten Chancen von Verlegern, Chefredaktionen und Programmdirektoren, die Stärken ihrer Medien zu pflegen und zu entwickeln. Stattdessen frönten sie Modetrends, sparten sich halbtot und heulten nun über die Krise. Der ehemalige Verfassungsrichter Udo di Fabio buchstabierte wieder einmal Niklas Luhmanns Konzept der Ausdifferenzierung der Gesellschaft in die Funktionssysteme Wirtschaft, Politik , Wissenschaft durch. Damit das ganze System funktioniert, sind – in der Theorie – funktionale Kopplungen vorgesehen – etwa politische Eingriffe ins System Wirtschaft. Luhmanns Konzept und di Fabios Referat zeigen freilich nur, dass es keine Lösung gibt, weil die systemischen Kopplungen offensichtlich versagen und sich die Politik handlungsunfähig sparen muss, um Banken und Käufer von Staatsanleihen zu retten.

Sehr beliebt sind in letzter Zeit Vergleiche und Analogien zwischen der Studentenbewegung von 1968 und der Occupy-Strömung. Wolfgang Kraushaar machte deutlich, wie falsch solche Analogien sind. Berührungspunkte zwischen beiden Bewegungen gibt es nur in der globalen Dimension und in der Kritik der repräsentativen Demokratie. Den Schlusspunkt setzte der Historiker Paul Nolte, der dem staunenden Publikum offenbarte, wie steil aufwärts es mit der Demokratie gehe – trotz bedauerlicher Rückschläge. Dieser rabiate Optimismus bildet so etwas wie die Rückseite der schwarzen Prognosen der Postdemokratie-Poeten.

RUDOLF WALTHER