Leseglück mit Patricia Görg: Das Knacken der Knochen

Patricia Görg beherrscht Weitblick und Detail, Komisches und Gespenstisches. Neu ist ihr „Handbuch der Erfolglosen. Jahrgang zweitausendelf“.

Görg schreibt über Di's Tod als sei sie so nah dran wie diese Kamera, die das letzte Bild der Prinzession schoss. Bild: reuters

Sie habe nun mal „kein Naturell für lange epische Bögen“, sagt Patricia Görg, um zu erklären, warum keines ihrer Bücher bisher die Gattungsbezeichnung Roman trug. Sie liebe eher collagenartige Strukturen, in denen die verschiedenen Textteile und Textsorten miteinander in Kontakt treten. Vielleicht liegt da der Grund, warum eine der klügsten deutschen Autorinnen trotz bester Kritiken bisher nicht die Aufmerksamkeit findet, die sie verdient hätte. Patricia Görg weigert sich einfach, zu schnell jenen „Pakt mit dem Leser“ zu schließen, von dem Siegfried Lenz vor mehr als einem halben Jahrhundert sprach und der in der heutigen deutschen Romankunst wieder sehr beliebt ist.

Dabei ist die Lektüre ihrer Bücher keineswegs mühsam. Im Gegenteil, das Vergnügen, das sie bieten, ist erheblich. Wollte man selbst bösartig sein, könnte man ihr vorwerfen, sie habe den bösen Blick. Das wäre allerdings nur die halbe Wahrheit. Görgs Bücher sind zwar voller Bissigkeiten, im Ton eher kühl als mit Pathos vorgetragen, aber sie kennen doch auch das Erbarmen.

Mit Maat etwa, dem Protagonisten des Debüts „Glücksspagat“ aus dem Jahr 1999, Museumswärter in der mittelalterlichen Abteilung eines Museums, der Abend für Abend die im Titel genannte Gewinnshow sieht und die Heilsversprechen der Fernsehgegenwart und die der religiösen mittelalterlichen Malerei vielleicht gar nicht durcheinander-, sondern eher zusammenbringt – mit Maat kennt die Autorin schon Erbarmen, ein Mitleid fast im Schopenhauer’schen Sinne.

Patricia Görg „Handbuch der Erfolglosen. Jahrgang zweitausendelf“. Berlin Verlag, Berlin 2012, 224 Seiten, 19,90 Euro

Ja, sie schreibt über diesen sonderbaren Museumswärter, der im ersten Moment nicht einmal seine eigene Entlassung aus Altersgründen versteht, mit kaum verhohlener Sympathie. Wenn ihre Bücher dem Leser auch nirgends Identifikationsfiguren anbieten, so ist Maat doch jemand, den man am Ende einfach lieben muss und den man schließlich nur ungern im „Goldgrund angehaltener Zeit“, das heißt in einem der bewachten Bilder, entschwinden sieht.

Arrangierte Szenen

„Goldgrund angehaltener Zeit“, eine Metapher, die in der Erzählung mehrfach gebraucht wird, ist ein gutes Stichwort für Patricia Görgs bisheriges Werk. Diese Autorin präsentiert uns sorgfältig gearbeitete Bilder und Szenen, die oft allerdings wie eingefroren erscheinen. Deshalb ist ihre Erzählzeit auch (fast) durchgängig das Präsens. Geschichte tritt bei ihr vorrangig in der Form der Inszenierung auf, des arrangierten Bildes. Das soll nicht bedeuten, dass Görg die Geschichte und ihre Folgen negiert. Sie hat ein ganzes Buch mit „Zeitgeschichten“ – so ihre Gattungsbezeichnung – geschrieben, „Tote Bekannte“. Auf dem Cover winken uns Princess Diana und Erich Honecker zu, die Köpfe in ein Oval gefasst, auf der Umschlagrückseite François Mitterrand und Nicolae Ceaucescu. Tote Bekannte, in der Tat, die uns medial vermittelt über einen längeren Zeitraum begleitet haben.

Wie Helmut Schmidt, der im Dezember 1981 Erich Honecker besucht. „Das Speisezimmer des Staatsrats-Gästehauses bietet an seiner ovalen gedeckten Tafel Platz für 17 Personen. An der einen Schmalseite des Raumes hängt das Gemälde einer herbstlichen Landschaft. Vor der verglasten Längswand steht ein Tischchen mit einer Schale voll Obst. Die Essensteilnehmer sitzen, aber noch müssen die Tischreden gehalten werden. In drangvoller Enge füllen Journalisten den Raum bis auf den letzten Stehplatz aus. Fernsehkameras laufen.“

Die Geschichte „Das Grab“ über den Tod von Diana und die folgenden Verwerfungen in der britischen Monarchie liest sich, als hätten Stephen Frears und Patricia Görg das Drehbuch zu „The Queen“ gemeinsam geschrieben. Auch hier geht es naturgemäß vor allem um Formenwelt. Wie diese die Gestalt des Irrsinns annehmen kann, lässt sich in der Geschichte „Der Kopf“ über die letzten Tage der Ceaucescus nachlesen.

Das Meisterstück dieses zeitgeschichtlichen Quartetts heißt „Die Vögel“ und erzählt vom Silvesterabend 1995, als die Mitterrands zum letzten Mal enge Freunde zum Essen empfangen, in ihrem Landsitz im französischen Südwesten, acht Tage vor dem Tod des Expräsidenten. Faszinierend, wie Görg diesen Empfang als Inszenierung vom ersten Moment an vorführt, wie sie die selbstgestrickten Legenden der „Sphinx“ Mitterrand noch einmal nachstrickt und dabei gleichzeitig dekonstruiert.

Verbotene Delikatesse

Dann kommt der Höhepunkt. Die Gäste haben sehr lange aufs Essen warten müssen, bis endlich die verbotene Delikatesse serviert wird, jene Ammern, Ortolane, die drei Wochen vor ihrem Ende in einem abgedunkelten Raum ununterbrochen gemästet werden, bevor man sie kopfüber in einem Glas Cognac erstickt. „Die Gäste, die das Ritual dieser Mahlzeit kennen, entfalten ihre großen weißen Servietten und legen sie sich so über die Köpfe, dass sie vollständig darunter verschwinden. Einer von ihnen hilft Mitterrand dabei, seinen Kopf zu bedecken. Und dann beugen die ganze Tischgesellschaft und Mitterrand sich vor, über die Teller, auf denen jeweils eine heiße Fettammer liegt, deren Aroma die Serviette im Raum vor dem Gesichtern einfängt, nehmen den Vogel der Könige mit den Fingern auf und trennen seinen Kopf mit einem einzigen Biss. Anschließend verzehren sie die Flügel, die dünnen Beine, den gut genährten Leib mitsamt allen Knochen. Gedämpftes Knacken erfüllt den Speisesaal.“

Das zugleich Komische wie Gespenstische dieser Szene ist charakteristisch für Patricia Görg. Eine Humanistin kann man sie kaum nennen. Ihre menschliche Komödie ist jederzeit eingebettet. Nicht umsonst wird in der Mitterrand-Erzählung mehrfach Pascal zitiert, der den Menschen bekanntlich zwischen dem unendlich Kleinen und dem unendlich Großen situiert sieht. Görg hat eine ähnliche Perspektive des Dazwischen, den kosmologischen ebenso wie den mikroskopischen Blick. Wenn sie ihren vom Geiz besessenen Protagonisten in „Meyer mit Y“ monatsweise durch dessen Jahreslauf begleitet, erfahren wir sukzessive auch etwas übers Leben der Maikäfer, Erdkröten und vieler anderer Organismen bis hin zu den Milben, die sich in unseren Kissen ansiedeln. Zugleich folgt am Himmel „der Große Hund dem Orion auf der Jagd nach den sieben Sternen.“

Ihr erscheine es zwingend, sagt die Autorin dazu, „den Blick auch immer mal wieder auf die Makroebene zu richten, um nicht als Menschenhund nur auf der mittleren Höhe zu schnüffeln, auf der die anderen ihre Beine gehoben haben.“ Dasselbe gelte für die Mikroebene, doch „schon ein Baum oder das Verhalten eines Vogels sind Parallelwelten, die für die meisten nur eine verschwommene Kulisse darstellen.“ Es geht ihr um „Gleichzeitigkeiten, die nicht bewusst wahrgenommen werden“.

Ähnlich ist auch ihr aktuelles Buch strukturiert, das „Handbuch der Erfolglosen. Jahrgang zweitausendundelf.“ Der Umschlag sieht ein wenig aus, als habe der Berlin Verlag noch Papier fürs Cover von Henning Ritters vor zwei Jahren erschienenen „Notizheften“ übrig gehabt, etwas heller eingefärbt und grafisch bearbeitet. Das Journal des Jahres 2011 allein anhand der deutschen und internationalen (Medien-)Wirklichkeit zu beschreiben, wäre einfach zu platt gewesen. Allein die Fälle Guttenberg, Berlusconi und selbst noch Mubarak hätten kaum gereicht, uns klüger zu machen, denn dass Politiker sich bis zuletzt an ihr Stückchen Macht und Pfründe klammern, wissen wir natürlich schon.

Aber Patricia Görg greift weiter aus. Sie beneidet den Prof. Dr. Siegfried Bethke vom Max-Planck-Institut für Physik „um die scheinbar unkündbare Geborgenheit in seiner Materie“ und um die Fraglosigkeit seiner Fragestellungen. Ihr beißender Spott gilt den drei vermummten ETA-Vertretern, die den Waffenstillstand verkünden und offenbar glauben, „sie könnten eines schnellen Tages das autonome Baskenland auspacken wie eine Tafel Schokolade“. Sie führt uns die fruchtlose Podiumsdiskussion zwischen dem rumänischen Filmemacher Andrei Ujica und dem Medientheoretiker Friedrich Kittler vor, deren Scheitern keines Kommentars bedarf. Podiumsdiskussionen und „Dialoge“ in ihrem Leerlauf sind ohnehin eines ihrer Lieblingssujets.

Sterne im Nichts

Sie führt uns aber auch in die weit entfernte Welt der Exoplaneten, die so heißen, weil sie nicht mehr zu unserem Sonnensystem gehören. Ihr kosmologischer Blick, so die Autorin im Gespräch, rühre aus dem Bewusstsein, dass wir uns alle schließlich „in einem riesigen, unverstandenen, mit Sternen bestückten Nichts“ befänden, wobei sie sich dann sofort fürs leise Pathos dieser Formulierung entschuldigt. Sie liefert die beste Analyse von Gerhard Richters berühmten Zyklus „18. Oktober 1977“: „Wie alle Ikonen“, schreibt sie zu diesen Bildern, „wären sie gar nicht lesbar, wenn man die Geschichte nicht kennen würde, die sie erzählen; wie alle Ikonen erzählen sie die Geschichte gar nicht, die sie vorgeben zu erzählen, sondern bündeln sie in einer Chiffre. Der Betrachter steht davor und versucht, Tiefe zu entziffern.“

Dass das Scheitern keineswegs die Ausnahme sei, sondern das Normale, hatte Botho Strauß schon 1977 in seinem besten Buch „Die Widmung“ notiert. Bei aller Klarheit und Kühle des Blicks führt uns Patricia Görg das allerdings ohne Häme vor. Zudem lässt sich die Frage, wo denn das Positive bleibe, durchaus beantworten. Ihre Klugheit hindert sie nicht daran, auch zu bewundern, wo es angebracht ist, etwa die Beharrlichkeit des Polaroidfotografen Horst Ademeit oder die filmische Umsetzung von Simenons „Der Mann aus London“ durch Béla Tarr.

Das eigentliche Kernstück dieses hinreißenden Journals findet sich auf den Seiten 103 bis 105. Es handelt sich um eine Hommage an Olli Dittrich, vulgo Dittsche. Allein diese drei Seiten lohnen schon den Kauf des Buches. Das perlt.

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