Weltverbesserung dank Vernetzung: Der Bluff der Internetversteher

Das Internet ist der letzte Schrei. Steht der Hereinbruch einer „neuen Gesellschaft“ unmittelbar bevor? Was aber, wenn wir uns nicht „vernetzen“ wollen?

Begreift doch: „Das Internet“ hat so wenig eine politische Stimme wie „das Fernsehen“. Bild: hannesleitlein / photocase.com

Die kalifornische Ideologie entstand während der sechziger Jahre im Dunstkreis von Hippies und Kybernetikern. Sie ging davon aus, dass die durch umfassende Vernetzung erzeugten Feedbackschleifen die ganze Gesellschaft zum Besseren transformierten. Permanente Rückmeldung würde den Menschen bewusster und damit auch sozialer und demokratischer machen.

In dem stilbildenden Gedicht „All Watched over by machines of loving grace“ des Jahres 1968, eine der frühesten Quellen jenes kalifornischen Denkens, träumte so etwa Richard Brautigan von einem kybernetischen Arkadien, das von grenzenloser Partizipation und Transparenz geprägt sein würde: „A cybernetic meadow / where mammals and computers / live together in mutually / programming harmony.“

Mit dem World Wide Web – besonders durch Social Media – ist der Traum der allumfassenden Feedbackschleife wahr geworden, durch die sich Säugetiere, sprich: Menschen, und Computer gegenseitig programmieren. Aber die Idee der Weltverbesserung durch Vernetzung erscheint heute bestenfalls naiv.

Nicht nur fußt die digitale Welt auf der Ausbeutung von Arbeitskräften in Schwellenländern, sie koexistiert auch schon seit Jahrzehnten mit Fundamentalisten und totalitären Regimes, gleich welcher Prägung, und wird von diesen genutzt, wie das Beispiel radikaler Islamisten, aber auch dasjenige Chinas und Russlands zeigt.

Zunehmend wird auch die Zerstörung der Umwelt durch das Internet zum Thema. Bildeten die Rechenzentren für Cloud Computing ein Land, hätte dieses den fünfthöchsten Stromverbrauch der Welt, gleich nach den USA, China, Russland und Japan, Tendenz rapide steigend.

Kalifornische Ideologie als genialer Publicity Stunt

Natürlich dient auch die so frenetisch bejubelte freie Meinungsäußerung auf Twitter, Facebook und Google + zuallererst dazu, den Marktwert dieser Unternehmen anschwellen zu lassen, die zudem selbst in Westeuropa eine Zensur eingeführt haben, wie man sie für überwunden hielt. Zudem verdienen viele der Apologeten digitaler Weltverbesserung über Beraterverträge an Internetfirmen mit. Die kalifornische Ideologie erscheint heute bestenfalls als ein genialer Publicity Stunt.

Betrachtet man den Stand des internationalen Diskurses, mutet es befremdlich an, dass hierzulande im Umfeld der Piratenpartei nun so getan wird, als seien Computer und Internet der letzte Schrei, als stünde der Hereinbruch einer „neuen Gesellschaft“ unmittelbar bevor, wie dies Piratenstar Marina Weisband bei ihrer Abschiedsvorstellung auf dem Parteitag einpeitschte. „Ob wir das wollen oder nicht, ist scheißegal“, fügte sie defätistisch drohend hinzu.

Die Frage drängt sich auf: Was, wenn wir uns nicht vorbehaltlos „vernetzen“ wollen, wie es Weisband bei diesem Anlass und die kalifornische Ideologie schon seit nunmehr fast einem halben Jahrhundert fordert?

„Das Internet“ als solches hat genauso wenig eine politische Stimme wie „das Fernsehen“. Es wird von Rechtsradikalen genauso genutzt wie von konservativen Katholiken und anderen Fundamentalisten. Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung einer ach so jung und dynamischen Netzgemeinde hat sich auch der digitale Graben zwischen den Generationen in Deutschland mittlerweile größtenteils geschlossen. Bereits drei Viertel der 50- bis 59-Jährigen sind online, bei den über 60-Jährigen sind es immerhin über die Hälfte. Ist das diese jugendliche „Netzgemeinde“, die die Medien jauchzen lässt?

Der ostentativ sichtbare Teil der Internetnutzer – die jugendlich, optimistisch bis naiv wirkende Klientel der Piratenpartei – ist nur die winzige Spitze eines gigantischen Eisbergs, der mittlerweile vollkommen alltäglich ist. Dieses Missverhältnis ist kein Symptom eines Aufbruchs, sondern dasjenige einer Kultur, in der Internetfragen immer noch eher mit dem Vokabular der Werbung als mit demjenigen etablierter Intellektueller verhandelt werden.

Antiintellektuelle Elogen

Obwohl es mit Byung-Chul Han und CCC-Sprecherin Constanze Kurz Ausnahmen gibt, sind die Netzdeuter hierzulande eher Leute vom Schlag eines mit einem Vodafone-Beratervertrag ausgestatteten Sascha Lobo. Dies lässt das Internet als einen Ort erscheinen, der frisch, fröhlich und vor allem unzugänglich für die kritischen Einwände der ewig nörgelnden Intelligentsia ist – eine himmlische, werbetaugliche Oase, mit der man sich nur allzu gern identifiziert, wenn man ein Bedürfnis nach Vereinfachung verspürt.

Es stört nicht, dass sich tatsächlich praktisch jeder von diesem Phantasma der „Netzgemeinde“ angesprochen fühlen kann und sie gleichzeitig anachronistischerweise immer noch vom Nimbus einer Geheimgesellschaft zehrt. Solche Ungereimtheiten machen diese Konstruktion für Leute auf Identitätssuche umso attraktiver.

Besonders in der politischen Debatte hat die Rede von „der Internetgemeinde“ in Deutschland den strategischen Vorteil, den etablierten Diskurs mit etwas Unverbrauchtem, durchweg Positivem zu begegnen, das die ganze Autorität des Fortschritts und gleichzeitig die trügerische Aura des Insiderwissens ausstrahlt.

Nirgendwo wurde diese ganz und gar auf Intransparenz fußende rhetorische Strategie klarer als beim Zusammenstoß des stets ungelenken Kurt Beck mit dem Berliner Piraten-Abgeordneten Christopher Lauer. Als Beck bei Illner peinlich ausrastete, fühlte man auch Fremdscham für Lauer, der mit seinem Bluff des Internetverstehers bei keinem satisfaktionsfähigeren Gegner bestanden hätte.

„Die Stunde der Stümper“

Vollkommen hilflos ließ sich Beck von Lauers antiintellektueller Eloge auf den im Netz verbreiteten Kult des Amateurs irritieren, den der Netzkritiker Andrew Keen schon vor Jahren in seinem Buch „Die Stunde der Stümper“ demaskierte. Man hätte vor Beck ebenso gut mit der Behauptung auftrumpfen können, Michael Jackson sei die neueste Sensation am Pophimmel.

Macht man sich dagegen die Mühe, die Piratenpartei in den Diskurs der politischen Philosophie einzureihen, dann erscheint ihr Versuch, das Politische auf das Rhizom, das Netzwerk, herunterzubrechen, als ein Kind Gilles Deleuzes – auch dies ein älterer Denker. Um sie für den Popdiskurs zu öffnen und gegen den damals als bürgerlich empfundenen Existenzialismus abzugrenzen, konzipierte der französische Theoretiker seine ursprünglich emanzipatorische Philosophie bewusst substanzlos – das heißt ohne Ideal- oder Subjektbegriff. Dies führte dazu, dass sie zuerst von Architekten, dann von Informatikern übernommen wurde; das deleuzianische Rhizom gilt heute als theoretische Fundierung des Internets.

Während der vergangenen Jahre wurden Deleuzes Ideen schließlich verstärkt von Militärs rezipiert, die sie vor allem im Guerillakrieg als taktischen Leitfaden gebrauchen. Höchstwahrscheinlich würde der verstorbene französische Theoretiker angesichts dieser Folgen seine eigene Philosophie als gescheitert betrachten.

Ihre fehlende Substanzialität, die sie für gleich welchen Zweck einsetzbar macht, wurde mittlerweile längst von den ihm nachfolgenden Theoretikern im postmodernen Diskurs ausgeglichen, etwa durch die Deleuze-Kritiker Alain Badiou und Slavoj Žiźek. Ein ähnliches Problem wie der Deleuzianismus haben die Piraten. Die basisdemokratische Partei, deren neuer Vorsitzender bereits jetzt im CDU-geführten Verteidigungsministerium arbeitet, kann momentan nicht garantieren, in welche Richtung die Reise gehen wird, die zumindest bei den Berliner Piraten mit expliziten Bekenntnissen zu Grundeinkommen, Mindestlohn und der Ausweitung der Menschenrechte begann.

Ist Zukunft scheißegal?

Strukturell gesehen ist Liquid Democracy mit der Frage der sozialen Gerechtigkeit hoffnungslos überfordert. Wenn Politik nicht an unverhandelbaren, historisch gewachsenen Idealen und politischer Professionalität festgemacht ist, kann sie Umverteilungsprozesse zugunsten der Mehrheit weder legitimieren noch organisieren.

Ähnliche Fragen stellen sich in Bezug auf den Schutz von Minderheiten, worunter durchaus auch die Produzenten kultureller Güter zu rechnen sind, aber ebenso die Eliten, deren Europa-Projekt kaum basisdemokratisch angenommen werden würde. Gerade weil Demokratisierung in Bezug auf Letzteres so notwendig ist und sich als so komplex darstellt, bietet die digitale nationale Demokratie hier keine Antwort.

Internetpionieren wie Jaron Lanier sind solche Aporien der von ihnen geschaffenen digitalen Ideologie schon lange klar. Nach beinahe einem halben Jahrhundert kalifornischer Ideologie wird es Zeit, dass auch hierzulande die Geste des Neuen – sprich der Hype, dem man bekanntlich nie glauben sollte – einer inhaltlichen Debatte über Fragen weicht, die Sokrates ebenso wie Adam Smith und Rosa Luxemburg umtrieben, obwohl in der Zwischenzeit eine ganze Reihe neuer Gadgets für den modernen Konsumenten erfunden wurden.

Mit der keineswegs überwundenen Eurokrise, dem wachsenden Maß an sozialer Ungleichheit und der Zunahme untypischer Beschäftigungsverhältnisse hat dieses Land Wichtigeres zu tun, als darüber zu debattieren, ob Politiker nun YouTube oder TV gucken, Briefe schreiben oder chatten sollten. Es ist nämlich alles andere als „scheißegal“, welche Zukunft wir wollen.

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