Zwiegespräch im kargen Keller

DEBÜT Persönliches Kino im besten Sinne: In dem beeindruckenden kleinen Film „Schildkrötenwut“ befragt die junge Berliner Filmemacherin Pary El-Qalqili ihren verschlossenen palästinensischen Vater. Auch wenn der das gar nicht will

Intime Zwiegespräche hinter der Glühbirne und ein ins Offene gerichteter, neugieriger Blick

Ein bewegtes Leben. In der Wüste, in eine Beduinenfamilie hinein geboren, landete der Palästinenser Musa El-Qalqili in den 1964 Jahren in Berlin. Dort arbeitete er zunächst auf dem Bau, heiratete dann eine deutsche Frau und gründete eine Familie, in den Siebzigern politisierte er sich, schloss sich maoistischen Palästinensergruppen an und kehrte schließlich, nach mehreren Kurzaufenthalten im Nahen Osten, seiner ungeliebten Wahlheimat – und Frau und Kindern – den Rücken.

In Qalqilia, im nordwestlichen Westjordanland, dem Ort, aus dem seine Familie stammt und nach dem sie benannt ist, wo sie aber schon seit geraumer Zeit nicht mehr lebt, wohnte er einige Jahre lang allein in einem großen Haus; getrennt von seiner palästinensische Familie, die es nach Gaza verschlagen hat und in Flüchtlingslager im Westjordanland und in Jordanien, erst recht getrennt von seiner deutschen Familie in Berlin. Er wurde dann, nach Beginn der zweiten Intifada und der Errichtung der israelischen Sperranlagen, die Qaqilia fast vollständig umschließen, ausgewiesen und kehrte nach Deutschland zurück. „Jeder hat seine Aufgabe“, sagt er, wenn er über den Kampf der Palästinenser spricht. Seine eigene Biografie spricht nicht dafür, dass er die seine gefunden hat.

Musa El-Qalqilis Tochter Pary erzählt diese Geschichte unaufgeregt, nüchtern melancholisch. Pary El-Qalqili hat einen Film über ihren Vater gedreht, „Schildkrötenwut“ heißt er, nach einem Erinnerungsbild: der in sich verschlossene Vater, der sich in den Keller der Familienwohnung zurückzieht, sich unter einen Panzer verkriecht wie eine Schildkröte. In ihrem Film sitzt Pary neben ihrem Vater in der Ecke eines Zimmers, hinter ihnen eine karge Wand, vor ihnen eine lose Glühbirne und fragt ihn aus, fragt stur nach, wenn sie auf Ausflüchte stößt oder auf vehemente Abwehrreaktionen, lässt nichts einfach so stehen. Und sie unternimmt eine Reise mit ihm, durch Ägypten, Jordanien und das Westjordanland, sammelt Fragmente eines Alltags, die sich nie zum Bild einer kohärenten Lebenswelt fügen, der Vater legt sich nicht nur mit seiner Tochter an, sondern auch mit Taxifahrern, wenn er über den Fahrpreis verhandelt oder mit ägyptischen Soldaten an der Grenze zum Gazastreifen. Der Wechsel zwischen der intimen Enge des Zwiegesprächs hinter der Glühbirne und dem ins Offene gerichteten, neugierigen Blick während der Reise bestimmt die Dynamik dieses beeindruckenden kleinen Films.

Auch aus der Familiengeschichte der El-Qalqilis ist die Schildkrötenwut des Vaters nur ein Ausschnitt. Parys im Film abwesende Brüder Joel und Iradj El-Qalqili nahmen in Deutschland als Ruderer an internationalen Wettkämpfen teil, die Mutter taucht auch manchmal im Bild auf, nur ein einziges Mal im selben Bild mit dem Vater allerdings; und sie bleibt stumm. „Schildkrötenwut“ ist persönliches Kino im besten Sinne: An den Brüchen und Widersprüchen ihrer Familiengeschichte schärft die Regisseurin ihre Sensibilität für die Komplexität – und, bei allen Narben: Schönheit – der Welt. LUKAS FOERSTER

■ „Schildkrötenwut“. Regie: Pary El-Qalqili. Deutschland 2012, 70 Min., im Eiszeit-Kino