Pathologe der Macht

NACHRUF Der zutiefst mexikanische Romancier und Essayist Carlos Fuentes ist am Dienstag 83-jährig gestorben. Sein großes Thema war die verkorkste Geschichte seines Landes

So polemisch und scharf Fuentes sein konnte, er wirkte stets freundlich und gut gelaunt

„Ich habe gerade ein Buch abgeschlossen und schon das nächste im Kopf“, sagte Carlos Fuentes in seinem letzten Interview, erschienen am Montag in der spanischen Zeitung El País. Am Dienstag ist Fuentes nach einer inneren Blutung in Mexiko-Stadt im Alter von 83 Jahren gestorben.

Das eben abgeschlossene Manuskript trägt den Titel „Federico en su balcón“ („Friedrich auf seinem Balkon“), ein imaginärer Dialog mit Nietzsche. Das geplante sollte „El Baile del Centenario“ heißen („Der Tanz des Jahrhunderts“); eine Geschichte, mit der er die Zeit zwischen der Unabhängigkeit Mexikos 1810 und der 1910 beginnenden Revolution erzählen wollte.

Beides sind Themen, die Fuentes sein Leben lang beschäftigt haben: Die Verkommenheit der Macht und die große und gleichzeitig verkorkste Geschichte seines Landes.

Geboren wurde er am 28. November 1928 in Panama-Stadt als Sohn eines Diplomaten. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in den Hauptstädten des amerikanischen Kontinents, von Washington bis Buenos Aires. Mit 16 kam er nach Mexiko-Stadt, später lebte er in Paris, London, Venedig. Er war ein Weltbürger mit ganz tiefen Wurzeln zu Hause. Den Durchbruch schaffte er mit dem Roman „Landschaft in klarem Licht“ (1958), dem ersten literarischen Bild des modernen Molochs von Mexiko-Stadt.

Nachfolgende Erfolge wie „Der Tod des Artemio Cruz“ (1962) behandeln Glanz, Leid und Niedergang der mexikanischen Revolution. Sein genialer Briefwechsel-Roman „La Silla del Águila“ (2003) nimmt die korrupte Elite Mexikos auseinander. Fuentes war immer hart an der Realität und mischte sich auch als politischer Essayist ein. Sein größter Wurf auf diesem Feld ist „Der vergrabene Spiegel“ (1992), eine kulturhistorische Erörterung Lateinamerikas von der Conquista bis in die Gegenwart. Lange vor der bolivarischen Vision eines Hugo Chávez entwirft er darin die Möglichkeit eines eigenständigen und wirklich unabhängigen Hispanoamerikas. Für den populistischen Präsidenten Venezuelas hatte er nur grimmige Worte übrig: Er nannte ihn einen „tropischen Mussolini“. Dabei verstand sich Fuentes immer als links. In Mexiko gehörte er zu den schärfsten Kritikern der lange als korrupte Staatspartei herrschenden PRI.

Er unterstützte zunächst Fidel Castro, kritisierte ihn aber später wegen autoritärer Allüren. Zuletzt mischte er sich in die Debatte um die Legalisierung der Drogen ein. So polemisch und scharf Fuentes sein konnte, er wirkte stets freundlich und gut gelaunt, immer elegant und nie verbittert. Nichts konnte seinen Optimismus brechen. Am Tag, als er starb, erschien in der mexikanischen Zeitung La Jornada sein letztes Essay: über die Hoffnung, die er aus dem Regierungswechsel in Frankreich schöpfte.

TONI KEPPELER