Dirty Larry

KUNST Keiner hat intensiver draufgehalten: Eine Ausstellung in Berlin zeigt das Grandiose und das Gefährliche im Werk des Fotografen Larry Clark

VON RALF HANSELLE

Es stimmt. Larry Clark ist absolut shocking. Seine Bilder von Junkies, Strichern und dem Leiden an der „Teenage Lust“ haben seit jeher etwas Vulgäres. Sie sind grenzüberschreitend und nahezu schamlos. Vielleicht ist Larry Clark sogar more shocking als Nan Goldin, Jürgen Teller und Richard Billingham zusammen. So shocking, dass der heute 69-jährige Fotograf und Filmemacher bei seiner Retrospektive „Kiss the Past Hello“ vor zwei Jahren im Pariser Museum für Moderne Kunst einer Altersbeschränkung zustimmen musste. Dem Hype um sein Werk hat das nie geschadet. Im Gegenteil. Keine Kritik über diesen Bilderrausch der rabiaten Waffen- und Drogenschüssen, die seither ohne P-Frage ausgekommen wäre: Sind das noch harmlose Pubertätsposen oder ist das bereits handfeste Pornografie?

Über vierzig Jahre geht das nun so. Seitdem der Exjunkie aus Oklahoma 1971 seinen ersten Bildband „Tulsa“ vorgelegt hat, spaltet er mit seinen intimen Teenagerfotos die Öffentlichkeit. Kaum zum Kultbuch avanciert, musste „Tulsa“ – eine Serie über die öde Jugend in einer amerikanischen Kleinstadt – bereits wieder eingestampft werden. Die Familie einer im Buch abgebildeten Drogensüchtigen hatte damals ein Veröffentlichungsverbot erzwungen. Es war der Startschuss zu einem nicht enden wollenden Bilderstreit.

Und der reicht bis in die Gegenwart. Während die einen von Clarks radikalem Realismus aversiv die Augen abkehren, ist er für andere der Kick, der ins Blut geht. Ekel und Erektion; Widerwillen und Voyeurismus – kaum ein Künstler hat sich über das Spiel mit körpernahen Emotionen derart gut im Gespräch gehalten wie Larry Clark, der ewige Skaterboy, der inzwischen zum Silversurfer gealtert ist.

Liebe oder Hass – ein kompromissloser Borderline-Chic, der vermutlich auch in Berlin funktionieren wird. Dort nämlich sind seit diesem Samstag 200 ausgewählte Werke des anarchischen Amerikaners in einer Ausstellung des Fotoforums C/O Berlin zu sehen – von seinem recht streng komponierten schwarzweißen Frühwerk „Tulsa“ und „Teenage Lust“ bis hin zu aktuellen Collagen und Videos über Kaliforniens Skaterszene. Und wieder werden die P-Fragen aufkommen. Die Fragen der 50er und 60er – der „heilen Apfelkuchenwelt“, wie Larry Clark das mal genannt hat.

Aus ihr ist er einst gekommen. Sie ist er nie mehr losgeworden. Die Welt, in der alles gekämmt und gebürstet war – und das, obwohl zeitgleich Mitschüler von ihren Eltern verprügelt und ein Mädchen aus Clarks Highschool von fünf Brüdern zugleich missbraucht worden ist. Es war eine Welt zum Schreien und Weglaufen. Larry Clark, selbst in einem problematischen Elternhaus großgeworden, reagierte auf sie früh mit seinen Fotos. Zunächst absolvierte er ein Studium der Werbefotografie, zwei Jahre später begann er damit, sein Nahfeld mit einer Leica unter die Lupe zu nehmen: Freunde, Liebschaften, Drogenkumpel. Clark war 16, als er das erste Mal Amphetamine spritzte. Es folgten Marihuana und dann das ganz harte Zeug: „Ohne Drogen“, wird er sich später erinnern, „hätte ich kein einziges dieser Fotos gemacht, aber ohne das Fotografieren hätte ich die Drogen auch nicht überlebt.“

Kaputtes und Kreatives

Man sieht es seinen in Berlin gezeigten Arbeiten an: Für Larry Clark ist Kunst der Stoff, der ihn am Leben gehalten hat. Bis heute hangelt er sich Bild für Bild an der früh verletzten Kindheit entlang. An Gewalt, Missbrauch, Drogen und Sex. Lichtzeichnung ist für ihn Lebenszeichnung. Kaum ein Fotograf hat mit einer Kamera näher zum Leben gefunden; kaum einer hat intensiver draufgehalten. „Ich will alles zeigen!“, so sein Credo: Schwangere, die sich einen Schuss setzen; Kinder, die kiffen; Halbstarke, die mit Revolvern spielen. Alles: das Kaputte und das Kreative; das Gefährliche und das Grandiose. Den ganzen Geschmack der Adoleszenz – in Bildern, Sequenzen und Serien.

Früh, das zeigt diese Werkschau, besticht Clark durch ein cineastisches Auge. Schon seine ersten im Selbstverlag publizierten Fotobücher zeugen vom Drang, große Geschichten zu erzählen. Immer wieder reproduziert er nicht nur Einzelbilder; er publiziert Kontaktbögen und Bilderfolgen. Schon hier erkennt man die Handschrift des späteren Filmemachers – des Regisseur, der mit „Kids“, „Bully“ oder „Ken Park“ bald auch Kinosäle zur intimbefreiten Zone erklären wird.

So gesehen ist dieses Werk aktueller denn je. Auf immer neue Art stellt es die Frage nach Transparenz und Tabu; nach Porno und Privatsphäre. Wer im zweiten Stock der Berliner Ausstellung vor den großen Collagen der letzten Jahre steht – vor wuchernden Tableaus aus Zeitungsfotos, Schnappschüssen und Schamhaarbildchen –, der fühlt sich erinnert an das Prinzip Pinterest: an private Bilder, gepostet in einem offenen Raum. Die Erregung über Clarks Ästhetik ist von der virtuellen Realität längst überrundet worden: Ein Kaiser, der nackt ist, sollte besser nicht vom Ausziehen reden.

Larry Clark: C/O Berlin im Postfuhramt. Oranienburger Straße 35/36. Berlin. Noch bis zum 12. August