Biennale für zeitgenössische Kunst: Kohle für die Manifesta

Schauplatz der 9. Manifesta ist eine ehemalige Kohlemine im belgischen Genk. Gelungen thematisiert sie Industrialisierung im Spiegel der Kunst.

Ehemalige Kohlemine - Industrialisierung im Spiegel der Kunst. Bild: manifesta

Seit 16 Jahren wandert die Manifesta alle zwei Jahre von einer europäischen Stadt zur nächsten und platziert sich in zunehmend politischeren Kontexten an immer exotischeren Orten.

Dabei wurde sie immer mittelmäßiger, immer unbedeutender. Baskenkonflikt 2004 in San Sebastián, 2006 das teilbesetzte Zypern – was völlig scheiterte, die Manifesta wurde abgesagt; 2008 das zersplitterte Südtirol, 2010 die Region Murcia „im Dialog mit Afrika“, so der damalige Untertitel – können Künstler überhaupt zu Themenkomplexen wie die restriktive Einwanderungspolitik der EU etwas beitragen?

Ursprünglich sollte die Manifesta als „europäische Biennale“ die regionalen, sozialen bis ökonomischen Barrieren innerhalb von Europa überschreiten. Das Konzept der politischen Krisenherde bzw. geopolitisch brisanten Orte war dafür allerdings nicht dienlich. Meist sahen wir nur ein großes Spektakel in viel zu vielen Räumen. Vor zwei Jahren dann zog die zuständige Dachorganisation die Notbremse und änderte radikal die Vorgaben.

Heuer darf die Manifesta auf nur noch ein Ausstellungsgebäude beschränkt sein und es entscheidet nur mehr ein Hauptkurator (Cuauhtémoc Medina, Mexiko) plus zwei ergänzenden Kuratoren (Katerina Gregos, Griechenland/Belgien; Dawn Ades, England). Erstmals sind sowohl historische Werke als auch bekannte Künstler zugelassen und vor allem ist kein politischer, sondern ein kulturgeschichtlicher Themenschwerpunkt gewählt: der Kohlebergbau bzw. die Industrialisierung.

Und das funktioniert großartig. Austragungsort ist ein altes Zechengebäude in Genk, ein 65.000-Einwohner-Städtchen im Nordosten Belgiens. Bis 1900 war hier unbesiedelte Heidelandschaft, 1901 wurde Steinkohle entdeckt und die Region entwickelte sich zum industriellen Zentrum Belgiens. 1960 setzte der Strukturwandel ein, es folgte die Auto- und Stahlindustrie, die jetzt abgelöst wird von der großen Hoffnung namens Kreativindustrie. Die „C-Zeche“ in Genk ist bereits zum Kulturzentrum umfunktioniert. Jene in Waterschei-Genk wird zum Agenturen- und Büroareal und beherbergt vorher noch die Manifesta.

Alltag und Hölle

Außen bereits renoviert, ist das Innere des ehemaligen Verwaltungsgebäudes noch eine Ruine. Farbreste blättern von den Wänden, Löcher klaffen in den Böden – ein nicht ganz ungefährliches Ambiente, um mit „The Deep of the Modern“ den Bergbau als Auslöser gesellschaftlichen Wandels und als Grundlage der Moderne zu entfalten. Aber den drei Kuratoren ist es gelungen, sowohl Spektakel als auch Redundanz zu verhindern.

Zwar liegen geschätzte 5 Tonnen Kohle auf den 25.000 qm Ausstellungsfläche herum, aber wir erleben das schwarze Material jedes Mal anders: sehr roh in Richard Longs „Bolivian Coal Line“, als Anti-Monument in den drei Kohlehaufen von Marcel Broodthaers, als Provokation in Marcel Duchamps rekonstruierten „1.200 Kohlesäcken“, die er 1938 in der Surrealismusausstellung an die Decke hängte.

Hier in Genk fungiert Duchamps Installation als dunkler Eingangstunnel zur kunsthistorischen Abteilung, die uns mit 73 Werken die Industrialisierung im Spiegel der Kunst zeigt: komprimiert, vielseitig, faszinierend, wenn Luftverschmutzung impressionistisch umgedeutet wird, Bergarbeiter zum Motiv für Malerei werden oder Kohleminen als Hölle dargestellt sind.

Historische Aufarbeitung im Erdgeschoss, kunsthistorische Werke in der ersten Etage, Zeitgenössisches im zweiten Stock – diese Aufteilung klingt zwar brav, funktioniert aber hervorragend. Das liegt einerseits an dem komplexen Thema, andererseits an der überschaubaren Menge und den überzeugenden Arbeiten. Immer wieder ergeben sich in den riesigen, offenen Räumen Blickachsen, wodurch die 39 zeitgenössischen Künstler mit den historischen Positionen verbunden bleiben.

Was in den früheren Ausgaben der Manifesta kaum gelang, funktioniert hier perfekt: Die Kunstwerke bilden Brücken zwischen verschiedenen Geschichten, verbinden private Erinnerungen mit globalen Entwicklungen, betonen frühe und aktuelle Folgen der Industrialisierung.

Mehr als Chemie

Was aber trägt die Kunst zu neuen Blicken auf die Kohle bei? Da sind etwa die Vitrinen von Ana Torfs, die das Grundmaterial der Kunst thematisieren: Farben. Hier heißen sie Sudan Schwarz, Prontosil oder Picric Acid. Es sind synthetisch erzeugte Farben, entstanden erstmals 1856 aus bis dahin als unbrauchbar geltendem Steinkohleabfall. Torfs erzählt damit aber auch eine andere Geschichte der Industrialisierung, denn diese chemischen Verbindungen dienten später auch als Explosionsstoff, als Medizin bis hin zu Cyklon B für Hitlers Gaskammern.

Den umgekehrten Prozess führt Haifeng Ni mit den Nähmaschinen und Stoffresten vor, die zu einem riesigen dekorativen Teil zusammengenäht sind – viel Produktion für ein sinnloses Produkt, eine „Para-Production“, so der Titel. Und den Schritt in die Gegenwart zeigt Paolo Woods mit seinen Fotografien, in denen er die sozialen Auswirkungen chinesisch finanzierter Industrialisierung in Afrika dokumentiert.

Kohle, das zeigt die Ausstellung eindrücklich, ist weit mehr als nur dunkel und dreckig. Kohle war und ist ein Kulturtreiber – und das auch für die Manifesta, die dank des alten Fossils ihre Aktualität zurückgewonnen hat.

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