Immer drauflos

NACHRUF Ray Bradbury, Autor von „Fahrenheit 451“ und Houdini der Schreibmaschine, ist tot

Lange wehrte er sich dagegen, irgendwann hat er aufgegeben, doch das Label blieb: Science-Fiction-Schriftsteller. Auch sein letzter Artikel im New Yorker, ein Tag vor seinem Tod veröffentlicht, kam in einer SciFi-Sonderausgabe. Ray Bradbury kannte sich mit der Zukunft gut aus, der Artikel hieß: „Take Me Home“.

Tatsächlich schrieb er Fantasy, Krimis, Theaterstücke, Essays, Gedichte, Horror, Rezensionen, Drehbücher, mehrere hundert Shortstorys. Voller Energie, mit Witz und Verve und spekulativ. Er publizierte in Groschenheften, einem eigenen Fanzine, in Comics. Noch als älterer Herr bekam er eine eigene Fernsehshow. Einer seiner schönsten Sätze war: „In meinem ganzen Leben habe ich an keinem einzigen Tag gearbeitet.“

Die letzten Bücher

Angetrieben wurde er von der Überzeugung, dass der Mensch – seit er aus dem Wasser ans Land geschwappt wurde, seit er mit dem Seh-Sinn die Welt bewundern kann, den Himmel anstarren, an die Unendlichkeit denken – noch mehr werden kann als Homo sapiens. Doch „Die Mars-Chroniken“ und „Fahrenheit 451“ zementierten 1950 und 1953 den Ruf des Schriftstellers, der sich mit der Zukunft beschäftigt; der Besiedlung des roten Planeten oder einem Regime der Bücherverbrennungen – denn bei 451 °F, bei 233 Grad Celsius verbrennt das Papier. Ironisch oder abartig: In dieser „spekulativen Fiktion“, so der stubenreine Begriff für Science-Fiction, ist es Aufgabe der Feuerwehr, die letzten Bücher abzufackeln, damit sich alle von Videoleinwänden und seichter Hirnwäsche berieseln lassen. Horror.

1920 in einer Kleinstadt nördlich von Chicago, Illinois, geboren, hatte Ray Douglas Bradbury als Sohn eines Telefonkabelverlegers zunächst ganz andere Pläne. „Der Kriegsherr des Mars“ von Tarzan-Erfinder Edgar Rice Burroughs beeindruckte ihn, ebenso die Filme, zu denen ihn seine Mutter mitnahm: mit drei „Der Glöckner von Notre Dame“, mit fünf „Die verlorene Welt“, dann „Das Phantom der Oper“. Glaubt man ihm, so muss er diese Filme jeweils im Jahr ihrer Premieren gesehen haben. Außerdem sah er früh seinen toten Großvater. Als er sieben war, starb seine Schwester. Noch bevor die Familie in der Wirtschaftskrise nach Kalifornien zog, sah er etwas Unvergessliches: einen von Kopf bis Fuß tätowierten Mann, wie eine menschliche Illustrierte. Das war seine Welt: die von Kino, Zirkus, Horror und Wahnsinn. Ray wusste, was er werden wollte: Zauberer.

Eins seiner besten Bücher ist deshalb: „Zen in the Art of Writing“. Denn Ray Bradbury war ein Houdini an der Schreibmaschine. Sein Augenlicht war so schlecht, dass er für den Zweiten Weltkrieg ausgemustert wurde, er stattdessen Bibliotheken und Creative-Writing-Kurse besuchte, keine Uni, sondern Schriftstellerzirkel mit Koryphäen der Science-Fiction, die meisten heute vergessen. Bradbury schrieb wie ein Besessener, niemals – und damit anders als der klassische Genre-Autor – nach Plan, sondern immer drauflos.

Morgens lauschte er ein, zwei Stunden, was ihm seine Figuren zu sagen hatten, dann raste er zur Schreibmaschine, tippte, bevor die Ideen wegliefen. Nebenfiguren übernahmen die Handlung, „Der illustrierte Mann“ erschien, die Erinnerung an ein ertrinkendes Mädchen brachte Tod und Tote an die Oberfläche, ein Mann mit schrecklich entstelltem Gesicht inspirierte Liebe und Humor. Ray tastete jedem Gefühl und Sinneseindruck nach. Eher aus Zufall wurde er Comic-Autor, dann Mitmacher bei der Verfilmung von „Moby Dick“, und als er irgendwann Fellini traf, den fragte, warum der sich nie ansah, was er im Kasten hatte, da sagte der: „Ich will nicht wissen, was ich mache.“

Bingo: die Magie der Intuition. Das ist sie, die Essenz von „Zen in the Art of Writing“, von Ray Bradbury: Mit Spaß, mit Lust auf Liebe und auf Wut, auf Angst und Schrecken das ausloten, was einen bewegt. Und dankbar sein, solange man sehen kann.

Mit 91 Jahren ist er am Mittwoch in Los Angeles gestorben.

MATTHIAS PENZEL