NACH DER LEKTÜRE
: Wie eine Ratte

Kollege B. verträgt keine Kritik. Ist okay, ich ja auch nicht

Ich lese jetzt das Buch von Kollege A., es ist schon ein paar Jahre alt, und ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich es gebraucht für einen Euro gekauft habe, statt A. zu unterstützen und es neu zu kaufen. Es ist ein sehr schönes Buch, es macht mich beim Lesen immer sehr ruhig und friedlich und irgendwie versöhnt mit der Welt. Ich möchte aber nicht sagen, dass es wie Kiffen ist, denn es geht in dem Buch auch ums Kiffen, also wäre das zu nah hergeholt. Ich versinke in den Geschichten und werde ganz leise. Natürlich ist man beim Lesen eigentlich immer leise. Außer diese Leute, die immer mitmurmeln, in der U-Bahn oder so, die hasse ich. Aber das Buch macht mich von innen leise, wie Yoga oder heiße Milch mit Honig. Immer wenn ich das Buch wieder zuklappe und sozusagen zurück in mein eigenes Leben komme, fühle ich mich ein bisschen komisch.

Die Ruhe ist immer noch da, aber ich fühle mich auch ein bisschen wie eine aufgeregte, hektisch-hysterische Ratte. Kollege B. hat das mal zu mir gesagt: „Kleine Ratte“ hat er mich genannt. Weil ich irgendwas gesagt hatte, was er unfreundlich fand, ich glaube, er verträgt keine Kritik. Ist okay, ich ja auch nicht. Jedenfalls fühle ich mich dann irgendwie wie eine Ratte, die so total trippelig und gehetzt in der Gegend rumläuft und auch ein bisschen jung und dumm ist. Ich sage mir aber immer, das kommt nur durch den krassen Gegensatz. Es ist so, wie wenn man einen sehr traurigen Film im Kino gesehen hat, irgendwas mit Krieg oder wo der beste Freund von jemandem stirbt, und es dann regnet und so, und dann kommt man aus dem Kino raus, und es laufen Leute über die Straße, die lachen oder über Smartphones reden. Die wirken dann auch unglaublich hysterisch und nervig und oberflächlich und scheiße, dabei sind sie wahrscheinlich in echt ganz okay. Jedenfalls sage ich mir das dann immer so. MARGARETE STOKOWSKI