Analoger Wissensschatz

TAGUNG „Avantgarde im Archiv?!“ an der Deutschen Kinemathek befasste sich mit Schwierigkeiten der Bestandssicherung von Experimentalfilmen

Avantgardefilmen wird man eher gerecht, wenn alte Aufführungstechniken berücksichtigt werden

VON ANDREAS BUSCHE

Ein Filmarchiv ist eine praktische Einrichtung. Es fungiert als Sammelstelle, in selteneren Fällen auch als Müllhalde der Geschichte. So kommt dem Archiv eine wichtige kulturelle Aufgabe zu: Durch das Selektieren, Erschließen, Befunden und Kategorisieren seiner Bestände ergab sich über Jahrzehnte eine Deutungshoheit über die Filmgeschichte.

Rolle der Diskursmaschine

Filmarchive übernahmen die Rolle von Diskursmaschinen, und nicht selten waren mit dieser Hochkultur der Cinephilie schillernde Persönlichkeiten verbunden: Namen wie Henri Langlois in der Cinémathèque Française, Iris Berry und Eileen Bowser am MoMa New York, James Card am Eastman House in Rochester. Doch im selben Maße wie eine Systematisierung von Datenbanken und Beständen der Topografie einer Sammlung eine Art navigierbare Roadmap bereitstellte, wurde – aus Ignoranz wie aus Ratlosigkeit – alles vernachlässigt, was auf dieser Landkarte keine Zuordnung fand, beziehungsweise mit den etablierten Begriffen und vorherrschenden kulturellen Praktiken nicht zu fassen war.

Dem wohl prominentesten Leidtragenden dieses blinden Flecks der Archivwelt, dem Avantgarde- und Experimentalfilm, widmete die Deutsche Kinemathek am vergangenen Wochenende ein munteres kleines Kolloquium, das sich mit einigen drängenden Fragen der Konservierung und Präsentation befasste. Gesprächsleiter Martin Koerber stellte bereits in seiner Einführung klar, dass er eine Definition der Begriffe Avantgarde- und Experimentalfilm lieber dem akademischen Betrieb überlassen würde. Denn die Probleme, die Archive bei der Bewahrung des experimentellen Films – oder des „anderen Films“, wie in Anlehnung an ein Pamphlet des Filmemachers Klaus Wyborny die inoffizielle Sprachregelung für das Wochenende lauten sollte – beschäftigen, sind zunächst ganz praktischer Natur. Was diese „anderen Filme“ (hierzu sind genauso das Home Movie wie auch, mit Einschränkungen, der Werbefilm zu zählen) verbindet, ist ihre Opposition zu den Produktionsbedingungen und Aufführungspraktiken einer kommerziellen Kinoindustrie.

Die bereits im Titel des Kolloquiums „Avantgarde im Archiv?!“ angedeutete Ambivalenz zwischen Frage und forscher Behauptung entpuppte sich aber schnell als Koketterie. Seinen rechtmäßigen Platz in den Filmarchiven macht dem Avantgardefilm niemand streitig. Das Sammeln von experimentellen Filmen hat in vielen, auch staatlichen Archiven sogar Tradition. Dennoch ist eine kritische Auseinandersetzung mit den Anforderungen, die ein solches Werk an Archivare und Restauratoren stellt, erst seit einigen Jahren, nicht zuletzt durch das wachsende Interesse der Bildenden Künste am Experimentalfilm, verstärkt zu beobachten.

Dass die Probleme der Archive bereits mit der Erfassung der mannigfaltigen Materialien, die ein solches Werk in seiner Ganzheit konstituieren, beginnt, erläuterte Daniel Meiller von der Deutschen Kinemathek anhand dreier Arbeiten von Wilhelm und Birgit Hein, Werner Nekes und Klaus Wyborny.

Ohne Skizzen und Kompositionspläne, wie auch Heinz Emigholz in einem Werkgespräch am Beispiel seines eigenen Frühwerks sehr anschaulich schilderte, sind viele Experimentalfilme heute nur schwer zu rekonstruieren. Der Experimentalfilm war immer schon das Resultat einer Mangelökonomie. Dieses prekäre Verhältnis kommt in den Arbeiten, von denen viele eine ephemere Qualität besitzen, unmittelbar zum Ausdruck. Doch inwiefern stehen Filmarchive, deren eigentliche Mission die Bewahrung ist, in der Pflicht, dieser Intention des Filmemachers Rechnung tragen?

Stefanie Schulte-Strathaus vom Arsenal machte im Widerstand des Materials sowie im Widerstand des Regisseurs, ein industriell gefertigtes Produkt seiner industriellen Bestimmung zu entreißen, die eigentliche politische Brisanz des Experimentalfilms aus. Am Beispiel des Happenings „Five Flaming Days in a Rented World“ (2009) zeigte sie eine Möglichkeit auf, ein in seiner filmischen Form so volatiles und in seiner Aufführungspraxis so unberechenbares Werk wie das des queeren New Yorker Filmemachers Jack Smith für die Nachwelt zu erhalten.

Kein Zweifel bestand unter den Anwesenden daran, dass der Integrität des Experimentalfilms nur Gerechtigkeit widerfahren könne, wenn die historischen Aufführungstechniken, das „analoge Wissen“, wie es einmal hieß, als integraler Bestandteil des Werks und damit auch der Konservierung berücksichtigt werden. Heinz Emigholz legte dagegen seine eher ontologische Sicht der Dinge an den Tag, als er attestierte, dass die Verlusterfahrung des Menschen auch vor den Filmen nicht haltmachen dürfe.