„Für Märkte ist Demokratie komfortabel“

DEMOKRATIE 10 Der Soziologe Colin Crouch über das komplizierte Verhältnis von Kapitalismus und Bürgermacht

■ Geboren 1944. Wurde 2004 mit einem Werk schlagartig bekannt: mit seiner Studie „Postdemokratie“, die 2008 im Suhrkamp Verlag in deutscher Übersetzung erschien. Kürzlich erschien, auch bei Suhrkamp, „Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Postdemokratie II“.

INTERVIEW TANIA MARTINI
UND STEFAN REINECKE

taz: Mr. Crouch, erleben wir derzeit das Ende der Ära des demokratischen Kapitalismus?

Colin Crouch: Nein. Die Demokratie wird schwächer, der Kapitalismus wird in der Ära der Finanzindustrie stärker. Aber die Kombination von Demokratie und Kapitalismus wird bleiben. Denn die Akteure der Finanzmärkte haben kein Interesse daran, dass die Demokratien sich auflösen. Es gab in der jüngeren Geschichte des Kapitalismus Ausnahmen wie das Pinochet-Regime. Aber in der Regel schätzen es die Mächtigen, wenn Gesetze eingehalten werden.

Kapitalismus braucht also Demokratie?

Ja, normalerweise. Es ist interessant, dass die so genannten Technokraten-Regierungen in Italien und Griechenland, die durch die Finanzkrise ins Amt kamen, die Selbstzerstörung der Demokratie eher gestoppt haben. Die Herrschaft der politischen Klasse in Griechenland, die die Medien kontrolliert und keine Steuern zahlt, ist ins Schwanken geraten – wobei man die Entwicklung nach der letzten Wahl erst abwarten muss. Auch in Italien ist mit Berlusconi, der die Macht massiv missbraucht, ja nicht die Demokratie untergegangen.

Aber Rom und Athen zeigen auch etwas ganz anderes: Ministerpräsident Mario Monti arbeitete zuvor für die Investmentbank Goldman Sachs. EZB-Chef Mario Draghi war Leiter der Europa-Abteilung von Goldman Sachs, in den USA waren die Finanzminister, die den Finanzsektor deregulierten, zuvor bei Goldman Sachs. Zeigt diese personelle Verwebung nicht, dass die Finanzindustrie die demokratischen Institutionen gekapert hat?

Oh, ja. Aber es zeigt auch, dass die Finanzindustrie die Demokratie als Schutz schätzt. Es gibt auch global weniger Diktaturen als früher. Die Haltung der USA gegenüber Diktaturen in Lateinamerika und im Nahen Osten hat sich verändert. Früher haben die USA demokratische Bewegungen rabiat unterdrückt – irgendwann haben sie, beschleunigt seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, verstanden, dass Demokratien mehr Stabilität bringen als Diktaturen.

Dann ist ja alles gut.

Nein, durchaus nicht. In den jetzigen Demokratien dürfen die Bürger wählen, aber was sie damit beeinflussen können, ist begrenzt. Die Politiker, die sie wählen, dürfen die Finanzmärkte nicht zu arg verärgern, sonst droht eine schlimme Krise. Im Grunde akzeptieren Bürger und Politiker bis jetzt diese Spielregel. Und deshalb ist Demokratie für Finanzmarktakteure eine komfortable Sache. Es gibt keine Unruhen, keinen Militärputsch. Das ist doch angenehm.

Das ist eine Schrumpfform von Demokratie. Ist die Aushöhlung der Demokratie durch den Finanzkapitalismus eigentlich neu? Oder gehört der Angriff auf die Demokratie seit jeher zum Kapitalismus?

Es gab verschiedene Perioden – und von Beginn an ein paradoxes Verhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus. Einerseits hat der Industriekapitalismus jene Reformen ermöglicht, die zur Demokratie gehören. Andererseits haben Kapitalbesitzer seit jeher zu viel Demokratie gefürchtet. Wir müssen uns vor Augen halten, dass die Demokratieform, von der wir gerade reden, in Nordwesteuropa seit 1945 existiert, in den USA etwas länger. Wir neigen dazu, uns als Regelfall zu verstehen. Aber welthistorisch geht es um eine überschaubare Region in einem begrenzten Zeitraum. Nach dem Sieg über den Nationalsozialismus begriffen die Eliten, dass Demokratie eine gute Sache war. Das US-Modell zeigte zudem, dass Demokratie günstigerweise auch mit sehr viel Ungleichheit zu haben war. In dieser Phase dominierten Kapitalgruppen, die sich selbst als nationale Akteure begriffen und deren Profit wiederum von einem florierenden Massenkonsum abhängig war. Das Ergebnis war ein Klassenkompromiss: Die Arbeiter bekamen mehr Rechte, das System war stabil, der Sozialstaat wurde ausgebaut, die Gewinne sprudelten. Alle waren zufrieden.

Und dann?

Dann hat sich das Kapital internationalisiert und national entbettet. Der Chef von General Motors hat 1956 gesagt: Was gut ist für General Motors, ist gut für die USA. Ein berühmter Satz. Weniger bekannt ist, was der Boss von Volvo in den 80er-Jahre gesagt hat: Schweden braucht Volvo, aber Volvo braucht Schweden nicht. Das zeigt den Sprung von dem eingebetteten, korporatistischen Kapitalismus zu dem globalisierten System. Der deregulierte, virtuelle Finanzkapitalismus ist dessen verschärfte Form.

Idealisieren Sie im Rückblick nicht die fordistische Phase? Auch der Wohlfahrtsstaat war ein Klassenkompromiss, keine wahre Demokratie.

Es gibt in einer Demokratie immer nur Kompromisse. Demokratie besteht aus Machtbalancen, der totale Sieg einer Gruppe ist in der Regel der Tod der Demokratie. Das Paradebeispiel dafür ist der Religionskompromiss in den Niederlanden im 19. Jahrhundert, als Katholiken, Säkulare und Protestanten Frieden schlossen. Weil jede Gruppe wusste, wenn sie versuchen würde zu siegen, würden sich alle anderen gegen sie verbünden.

Also halten Sie nichts von der Idee nichtrepräsentativer oder wahrer Demokratie?

Was soll das sein? Ich denke nicht, dass es eine Mehrheit für die Abschaffung des Kapitalismus gibt. Die marxistischen Konzepte, die wahren Interessen der Bürger zu definieren und ihre konkreten Willensäußerungen zu ignorieren, sind gescheitert. Kapitalismus gehört in all seinen Verästelungen zu dieser Gesellschaft.

Die Schlüsselfrage ist: Hat Politik die Möglichkeit, den Märkten Regeln zu setzen, die deren Macht entscheidend beeinträchtigt? Oder haben wir es mit der „marktkonformen Demokratie“ zu tun, von der Angela Merkel redet?

Wir haben marktkonforme Demokratien, und es ist schwer zu sagen, ob sie stabil sein können. Wir sehen, dass die Regierungen in den USA und Großbritannien, die die Deregulierung der Finanzmärkte vorangetrieben haben, langsam begreifen, dass sie den Bürgern nicht noch mehr zumuten können. Das ist das optimistische Szenario: Die Politik versteht, dass sie dem Begehren der Bürger nach mehr sozialer Absicherung Rechnung tragen muss. Das Problem ist: Wenn die Regierung den Sozialstaat renoviert, die Steuern erhöht, beginnt die Kapitalflucht. Das Einzige, was dagegen hilft, sind internationale Abkommen. Das Kapital agiert längst und in enormer Geschwindigkeit transnational, die Politik muss das auch tun. Das ist enorm kompliziert und komplex – gerade wenn man den halsstarrigen Widerstand gegen internationale Regulierungen in Großbritannien anschaut.

Und was ist das pessimistische Szenario?

Bisher erschienen: Paul Nolte, „Piraten, Wutbürger und etablierte Parteien“ (7. 4.); Micha Brumlik, „John Stuart Mill, Vordenker des Individualismus“ (17. 4.); Yanis Varoufakis, „Der Fall Griechenland: Wie gerecht ist die Finanzpolitik der EU?“ (23. 4.); Stefan Reinecke, „Aufstände in Zeiten der Postideologie“ (30. 4.); Sonja Vogel, „Kulturpolitik in Zeiten knapper Kassen“ (9. 5.); Boris Palmer, „Kopf oben, Bahnhof unten. Über den Umgang mit einem Wahlergebnis“ (23. 5.); Tania Martini, „David Graeber, neueste Rakete der Kapitalismuskritik“ (31. 5.); Moritz Ege, „Picaldi-Jeans: Wie demokratisch können Hosen sein?“ (9. 6.); Dirk Knipphals, „Weiß die Crowd, was gut für sie ist? Die Diskursfremdheit der Linken“ (16. 6.).

Die Protestbewegungen gegen den Finanzmarktkapitalismus sind zu flüchtig, die nationalstaatlichen Egoismen zu stark. Die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte geht weiter, die Chance für kollektives Handeln schwindet.

Und woran glauben Sie?

Ich weiß es nicht. Es kann noch viel mehr sozialen Zerfall geben, so wie in Griechenland. Die Märkte und ihre Agenten werden versuchen den Bürgern so viel an sozialstaatlichen Leistungen und sozialen Sicherheiten zu nehmen, wie es geht. Und das beschädigt das demokratische System: Es gibt mehr Nichtwähler, mehr Protestwähler, was wiederum die Legitimität der Regierungen schwächt. Das kann ein Kreislauf werden, der schneller wird.

Dann droht der Zerfall des demokratischen Systems?

Ja, die Gefahr gibt es wirklich. Aber man muss das ganze Bild der Demokratie sehen, nicht nur Parteien und Staat. Wir erleben seit Jahren den Abstieg der großen Parteien – aber auch den Aufstieg von Bürgerinitiativen, NGOs und zivilgesellschaftlichen Organisationen, die weder zum Markt noch zum Staat gehören. War es denn wirklich so viel besser, als die Großorgansationen in den 70er Jahren alles unter ihren Fittichen hatten und meinten alle Probleme lösen zu können? Ich glaube, die Individuen haben im Kapitalismus des 21. Jahrhunderts ein kompliziertes, aber auch ein reiches Leben – sie haben nicht eine, sondern viele Identitäten. Die Fragmentierung und soziale Zerklüftung hat auch positive Seiten. Die Individuen sind anders geworden, wählerischer, komplizierter, facettenreicher. Deshalb wäre es für die Sozialdemokratie oder linke Politik auch ein furchtbarer Irrtum zu glauben: Lasst uns in die 70er Jahre zurückkehren – dann wird alles gut.

Aber die Bürger wollen und brauchen soziale Sicherheiten.

Ja, natürlich. Aber einen Sozialstaat, der nicht Vorschriften macht, was für sie gut ist, sondern Hilfen gibt, damit sie selbst wählen können. Der Sozialstaat wird dadurch übrigens nicht billiger – im Gegenteil.