Ausstellung in New York: Alighiero und Boetti

Das New Yorker MoMA zeigt eine große Retrospektive des italienischen Arte-Povera-Künstlers und Pioniers der politischen Geografie Alighiero Boetti.

Eine der handgestickten Weltkarten Boettis. Bild: dpa

Ein Mann hält sich einen Wasserschlauch an den Kopf, dessen Strahl am erhitzten Kopf der Bronzestatue verdampft. Ein skurriles „Selbstporträt“ Alighiero Boettis aus dem Jahr 1993 steht der Ausstellung „Game Plan“ nicht umsonst voran, die das New Yorker MoMA dem italienischen Künstler seit Beginn diesen Monats widmet: der Künstler als Kraftwerk. In den labyrinthischen Zeichensystemen dieses Mannes haben sich Zeitzeugen wie Chronisten oft hoffnungslos verirrt.

Der Versuch, den Spuren dieses Spielemachers durch die siebziger und achtziger Jahre zu folgen, endet auch nach der Lektüre des Ausstellungskataloges, Marc Godfreys begleitender Biografie und dem feinsinnigen Erinnerungsbuch von Boettis Frau Annemarie Sauzeau Boetti von 2004 mit dem ernüchternden Gefühl, vieles über den als Sohn eines Anwalts und einer Violonistin 1940 in Turin geborenen Maler, Grafiker und Objektkünstler erfahren zu haben und dennoch nichts zu wissen.

Doch so wie die, die ihn kannten, über ihn sprechen, tritt ein Subtext zwischen den Zeilen hervor, der in seinen Versatzstücken eines jener boettischen Puzzles formt, das die liebevoll gepflegte Koexistenz des einen neben dem anderen zeigt: Unordnung neben Ordnung, Individuum neben Kollektiv, Irrtum neben Perfektion – ganz so wie das „e“, das er zu Beginn der siebziger Jahre zwischen seinen Namen setzte, um damit ein fiktives Künstlerduo anzuzeigen: Alighiero e Boetti, Alighiero und Boetti.

Seine erste Chronistin ist die französische Schriftstellerin Annemarie Sauzeau, die dem jungen Mann im Sommer 1962 in den ehemaligen Töpferwerkstätten Pablo Picassos in der Provence begegnet, wo dieser Keramiken kaufte. „Als ich ihn bei der Arbeit beobachtete, fiel mir auf, dass er gar nicht aussah wie ein Händler. Er wirkte eher wie ein Glücksritter an dem Roulettetisch eines Provinzkasinos.“ Sie verliebt sich in ihn. 1964 wird sie seine Frau, das Paar hat zwei Kinder, Matteo und Agata.

Künstlerische Kritik an der Profitgier

Es ist die Zeit, als sich mit Filmen wie Viscontis „Rocco und seine Brüder“ oder den Arbeiten des Konzeptkünstlers Piero Manzoni ein Wandel im Denken vollzieht. „Merda d’Artista“ nennt dieser in Dosen abgefüllte Exkremente – ein frühes Beispiel künstlerischer Kritik an der Profitgier des Kunstsystems. Boetti wird Teil der Arte Povera, einer Künstlergruppe, die mit „armen Materialien“ auf die amerikanische Pop-Art reagierte.

Die Künstler der Gruppe arbeiten ausschließlich mit Baumaterialien, die ihnen in Turin quasi als Abfallprodukt der Industrialisierung in den Schoß fallen. Es entsteht eine Art ästhetischer Überproduktion. Als einziger amerikanischer Teilnehmer der 1967er Arte-Povera-Ausstellungen erinnert sich Richard Long: „Als ich aus dem Zug stieg, fand ich mich wieder in dieser sonderbaren Umgebung; es war, als wäre ich plötzlich in Gesellschaft von Zirkusleuten. Es dauerte Jahre, bis ich realisierte, dass dies der Anfang der Arte-Povera-Bewegung war.“

Doch schon ein Jahr später verabschiedet sich der Künstler von der Arte Povera und seinem Turiner Atelier. Boetti zieht in die Ewige Stadt, wo er ein Atelier gegenüber der Basilica di Santa Maria, einer der ältesten Kirchen Roms, bezieht. Dort sitzt er an einem Schreibtisch vor einem Bogen Karopapier und umzieht die Kästchen mit dem Bleistift. Indem er seine Spielmittel auf ein Blatt Papier begrenzt, emanzipiert er sich von den Dingen der äußeren Welt. Diese Praxis stellt ihn aber auch gleichzeitig in Zusammenhang mit anderen, weiter entfernt arbeitenden Konzeptkünstlern und Minimalisten der damaligen Zeit wie Hanne Darboven oder Donald Judd.

Ihre seriellen Arbeiten vereint die Schönheit, die sich in der Logik ihrer Systeme begründet. Anders als seine Kollegen lässt Boetti aber den Zufall in seine Systeme eingreifen und unterläuft so deren Streben nach Perfektion. Er will das künstlerische Subjekt infrage stellen und beginnt andere, Unbeteiligte in die Produktion seiner Arbeiten einzubeziehen. Postbeamte etwa, die seinen Briefen, auf die er Briefmarken in einem bestimmten Muster aufklebt, den Poststempel willkürlich aufdrücken und so das strenge Konzept mit Anarchie brechen.

Geopolitische Kampfzonen

1967 lässt er seine Frau Annemarie auf einen mit Jute bespannten Stickreifen die Konturen der von Israel besetzten Gebiete auf dem Sinai, im Westjordanland und in Gaza sticken – so, wie sie am 10. Juni auf der Titelseite der Zeitung La Stampa erschienen. Aus der Arbeit wird die zwölfteilige Serie „Dodici forme dal 10 giugno 1967“, die die geopolitischen Kampfzonen in Vietnam, der ČSSR, China, Nordirland und Libyen als in Kupferplatten eingeritzte Landesgrenzen zeigt.

In diesen Jahren kommt es aber auch in Italien zu blutigen Zusammenstößen zwischen der revoltierenden Jugend und der Polizei, bei der Besetzung der Turiner Fiat-Werke im Winter 1967 etwa. Tausende Aktivisten werden verhaftet, viele Hunderte verlassen in der Folge fluchtartig das Land. Auch für Boetti beginnt eine Zeit des Reisens, das sich als physisches und psychisches Austreten aus der vertrauten Welt vollzog – beflügelt von Haschisch und Heroin.

Er reist nach Afghanistan, verliebt sich in die karge Härte der Landschaft, die von den sanften Pastelltönen des Himmels und den weichen Farben der Ebenen kontrastiert wird. Im Herbst 1971 eröffnet er in Kabul das „One Hotel“, dessen Führung er dem befreundeten Gholam Dataghir übergibt, während er selbst ein Zimmer bezieht und als Ali Ghiero die Rolle des mysteriösen Hoteliers, der anders als die Hippies stets im Anzug und dunkler Brille gekleidet ist, zu spielen beginnt.

Von Hand gestickte Weltkarte

Auf einem Basar im nordafghanischen Tashkurgan entdeckt Boetti die Itkat, traditionelle Webarbeiten, deren abstrakte Muster dem nichtfigürlichen Schönheitsideal der islamischen Kunst folgen. Über Dataghir nimmt er Kontakt zu afghanischen Kunststickerinnen auf, die bald darauf mit der Produktion der ersten großformatigen, von Hand gestickten Weltkarte, der „Mappa“, beginnen, auf der die Länder in den Farben und Mustern ihrer Flaggen dargestellt sind. Aus Unwissenheit, manchmal aber auch aus politischen Gründen schlichen sich bei den Stickerinnen Fehler in den Karten ein, die Boetti in ihrer Zufälligkeit und Unvorhersehbarkeit entzücken.

Gleichzeitig empfindet er Hochachtung für die Kunstfertigkeit der Handwerkerinnen. „Diese Frauen sind außerordentlich geschmackvoll in der Auswahl ihrer Farbzusammenstellungen. Ich sehe mich konfrontiert mit einer tausendjährigen Kultur, und wenn ich einhundert Versionen desselben Satzes anfertigen lasse, dann gibt es hundert Frauen, die diese Arbeit ausführen, und jede hat ihren ureigenen Geschmack.“ Die Serie der unzähligen „Mappas“, die damals entstehen, sollten Boetti weltberühmt machen.

Als Auftraggeber gab sich Ali Ghiero größte Mühe, die afghanische Lebensweise, die ihn so sehr faszinierte, nicht zu zerstören. Als Künstler glaubte er an die Magie der Mappas, die sich aus der Kombination von fernöstlichem und westlichem Wissen, aus Tradition und Moderne, aus Intention und Intuition zusammensetzten. Mittelsmänner leiteten die Produktion, den Produzentinnen zahlte er damals etwas mehr als den üblichen Lohn.

Munteres Chaos

Der Einmarsch der Sowjets in Afghanistan 1979, eine Fortsetzung des vor über hundert Jahren zwischen Russland und England auf dem Territorium Zentralasiens begonnenen „Great Games“, wird zu einem weiteren Wendepunkt in Boettis Spiel. Die strengen Ordnungssysteme seiner Arbeiten werden zunehmend von Zufallsprinzipien abgelöst, sie überlassen sich einem munteren Chaos. Es entstehen Zeichnungen und Kollagen, die oftmals wie aus einem gedankenverlorenen Spiel mit vertrauten Figuren heraus erstanden zu sein scheinen.

Seine Kinder, Matteo und Agata, sind oft bei ihm im Studio und helfen dem Künstler bei der Produktion seiner Arbeiten, die sie wie Spiele beschreiben. Agata erinnert sich daran, dass ihr Vater sie aufforderte, auf eine Leiter zu steigen und von dort aus in Farbe getränkte Gummiringe hinter sich zu werfen, die auf einen am Boden ausgebreiteten Papierbogen fielen und deren Abdrücke Teil der Komposition wurden.

Gleichzeitig dreht sich der politische Wind im Westen erneut. Anarchismus und Punk lösen die orthodoxe Linke ab. Boetti entwirft neue Arbeiten, mit denen er die afghanischen Stickerinnen, die er nach der Irrfahrt ihrer Flucht im pakistanischen Peschawar wiedergefunden hatte, beauftragt. Diese letzten Stickereien zeigen alle möglichen und Figuren und Formen, die sich in einem undurchdringlichen Wirrbild vereinen. Er nennt sie „Tutto – Alles“. Am 24. Februar 1994 stirbt Alighiero Boetti an den Folgen eines Hirntumors.

Alighiero Boetti: „Game Plan“. Christian Rattemeyer (Editor), Lynne Cooke (Editor), Mark Godfrey (Editor), Alighiero Boetti (Author) The Museum of Modern Art, New York, 2011, bis 1. Oktober. Katalog 40 €

Marc Godfrey: „Alighiero e Boetti“. Yale University Press, New Haven 2011, 256 S., 60 US$

Annemarie Sauzeau Boetti, Walther Konig: „Alighiero E Boetti: Shaman-Showman“, Köln 2004, 75 US$

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