Ein Stück vom Himmel für jeden Tag

KUNST Einübung in die kuratorische Praxis: Die Ausstellung „a minute is not a minute“ im Supermarkt will ein abstraktes Thema wie die Zeit greifbar machen. Der Bezug zur Lebenszeit ist allgegenwärtig

Manchmal geht es auch darum, wie sich die Zeit in den Dingen manifestiert. Da gibt es ein großes Bild, gemalt von Elke Graalfs, das eine leicht bewegte Oberfläche aus gestrickter Wolle darstellt, Masche für Masche mit dem Pinsel gemalt

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Menschen altern. Erinnerungen auch. Zumal die auf Film gespeicherten. Die 550 Kleinbild-Dias, die Sascha Weidner aus dem Bestand seiner Familie genommen und in einem Leuchtkasten zusammengebracht hat, unterliegen dort sogar einer künstlichen Beschleunigung ihres Verblassens. Die Aufnahmen, teils in sich schon unscharf oder verwischt, verändern die Farben, Grün, Blau und Rosabraun nähern sich einander an. Nicht zuletzt trägt die Miniaturisierung jeder Szene (24 x 36 mm) zu der Anmutung bei, oft schon sehr weit, mehr als eine Generation, vom Zeitpunkt der Aufnahme entfernt zu sein.

Dass der Diafilm verblasst, weiß man inzwischen, wie das digitale Gedächtnis sich abnutzt, ist bisher noch kaum ein Thema. Auch nicht in der Ausstellung „a minute is not a minute“, in der sich einige KünstlerInnen mit dem Verhältnis zwischen subjektiver Zeitwahrnehmung und der Rolle der Fotografie für den Prozess der Erinnerung in schlichten und poetischen Arbeiten auseinandersetzen.

Die gefühlte Beschleunigung allerdings, unter die das Leben in Zeiten der digitalen Kommunikation geraten ist, bildet schon eine Folie für die Sehnsucht nach Verlangsamung oder der ästhetischen Intensivierung des Augenblicks, die aus vielen Werken der 21 TeilnehmerInnen sprechen. Und während der erste Eindruck der Präsentation in einem umgenutzten Supermarkt in der Brunnenstraße sehr kühl und aufgeräumt wirkt und die Nüchternheit der Architektur mitsprechen lässt, sind viele der Bilder und Installationen emotional aufgeladen. Verknüpfungen zum eigenen Eingebundensein in das Vergehen der Zeit stellen sich allenthalben ein.

Wie kann man ein abstraktes Thema wie die Zeit greifbar machen, war eine der Fragen, mit der sich die 20 KuratorInnen der Ausstellung beschäftigt haben. Ja, tatsächlich, diese Ausstellung geht auf ebenso viele KuratorInnen wie KünstlerInnen zurück, denn sie ist das Ergebnis des Seminars „Kuratorische Praxis“, das vom Kunsthistorischen Institut der FU Berlin angeboten wird. Zwei der StudentInnen sind jeden Tag anwesend und erzählen bereitwillig, wie sie das Thema gemeinsam entwickelt und KünstlerInnen ausgewählt haben, vor allem an Kunsthochschulen. Damit war es aber nicht getan, berichten Saskia Nolte und Christian Kuhn. Sie haben auch den Ort gefunden, mit den Betreibern des Supermarkts über die Miete verhandelt, Sponsoren gesucht, Crowdfunding ausprobiert. Und waren dann sehr zufrieden mit mehr als 500 Besuchern zur Eröffnung.

Eine Uhr, deren Ziffernblatt sich gegen den Uhrzeigersinn dreht (Felix Kiessling); tägliche Bilder eines Ausschnitts vom Himmel, die zu kleinen Boxen gefaltet ein eigenwilliges Tagebuch ergeben (Tatsuya Higuchi) oder eine Umblättermaschine für ein Tagebuch, die sechs Jahre braucht, bis die weiße Seite umgewendet ist, weil der Großvater der Künstlerin Daniela Gugg ein Tagebuch hinterlassen hat, das zwischen 1939 und 1945 nur zwei leere Seiten aufwies – der Bezug zur Lebenszeit ist allgegenwärtig in der Ausstellung.

Dass auch der Körper ein Gedächtnisspeicher ist, erzählt das Video „George, Erika, Georges“ von Benjamin Yavuzsoy, der eine ehemalige Tänzerin der Hamburger Staatsoper besucht hat. Es ist eine behutsame Annäherung und auch eine, die das Mühsame der Rekonstruktion des Vergangenen mit einfachen Mitteln ins Bild setzt. Wie sie erst Möbel verschieben und den Teppich wegrollen muss, damit die Attitüden und Pirouetten ihrer früheren Auftritte nicht überall anecken, erzählt auch von der Verengung des Spielraums, die mit dem Berufsende einhergeht. Das alles dauert nur sieben Minuten.

Und manchmal geht es in „a minute is not a minute“ auch darum, wie sich die Zeit in den Dingen manifestiert. Da gibt es ein großes Bild, gemalt von Elke Graalfs, das eine leicht bewegte Oberfläche aus gestrickter Wolle darstellt, Masche für Masche mit dem Pinsel gemalt. Das ist eine Meditation auf die Wiederholung, bis eine Tätigkeit sich mechanisch in den Körper einsenkt. Für Elke Graalfs, so kann man im kleinen Katalog nachlesen, hat die Reflexion der Wiederholung Bedeutung seit einem Fließbandjob in ihrer Jugend.

Mehr Wiederholungen von dem Seminar „Kuratorische Praxis“ könnte es durchaus geben, findet Christian Kuhn. Nicht nur, weil sich auf die 20 Seminarplätze mehrere hundert StudentInnen bewerben; sondern auch, weil der Lernprozess so sichtbare Ergebnisse hervorbringt.

■ „a minute is not a minute“, Supermarkt, Brunnenstraße 64, Mo.–Fr. 10–18, Sa.– So. 14–20 Uhr, bis 27. Juli. Heute um 18 Uhr Künstlergespräch