An alle Grenzen gehen

FESTIVAL In Filmen zu Flucht und Asyl widmet sich die Dok Film Woche dem neuralgischen Punkt des Genres: zu beobachten und dabei doch involviert zu sein. 16 dokumentarische Filme sind ab Donnerstag zu sehen

Die Filmemacherin begleitete über Jahre ihren drogensüchtigen Bruder Dirk

VON BERT REBHANDL

An der Außengrenze der Europäischen Union werden viele Geschichten geschrieben. Das hat damit zu tun, dass es sich dabei nicht eigentlich um einen Ort handelt, sondern um ein Hindernis, eine Linie aus Punkten, an denen ein Übergang möglich wäre, der aber vielen Menschen versperrt bleibt. Also machen sie sich auf, dieses Hindernis zu überwinden. Häufig bedeutet dies, dass sie in ein Regime der Sichtbarkeit eintreten: In Europa können sie kaum unbemerkt das tun, was sie sich erhofft haben. Sie werden entdeckt und identifiziert. Und sie werden gefilmt, wie in „Jaurès“ von Vincent Dieutre oder in „Khaima“ („Zelt“) von Athanasios Karanikolas.

Das dokumentarische Kino interessiert sich aus guten Gründen stark für illegale Migranten, denn hier kommt besonders dicht zusammen, was das nicht-fiktionale Erzählen ohnehin häufig auszeichnet: Es erschafft und akzentuiert Geschichten von Menschen, die sich exponieren – indem sie ein Risiko eingehen, sich zu verändern versuchen, indem sie an Grenzen gehen.

Herausforderung Doku

Es ist sicher kein Zufall, dass sich bei der Dok Film Woche, die ab Donnerstag in den Kinos fsk und Eiszeit auf dem Programm steht, gleich mehrere Arbeiten mit dem Thema Flucht und Asyl beschäftigen (zum Beispiel „Wadim“ von Carsten Rau und Hauke Wendler).

Hier steht das dokumentarische Kino vor der Herausforderung, etwas auf eine andere Art zu zeigen, als es für gewöhnlich präsentiert wird. Und damit wird eine Funktion dieser Filme in der Mediengesellschaft erkennbar, die zugleich deren Problem ist: Denn es ist in der Regel sehr aufwendig, monatelang in Afrika zu drehen (wie es Miriam Fassbender für „Fremd“ getan hat) oder unter afghanischen Flüchtlingen im griechischen Patras (wie Athanasios Karanikolas). Das kostet Geld, und es kostet Zeit.

Die 16 Filme, die für die Dok Film Woche ausgesucht wurden, sind also so etwas wie ein Luxus, der zugleich eine Herausforderung ist. Den Nachweis, dass nämlich trotz aller widrigen Umstände das genaue, aber auch leidenschaftliche Beobachten einen Ort im Kino haben kann, müssen sie erst erbringen. In „Jaurès“ verbindet sich der Alltag von Afghanen in Paris mit dem Blick aus dem Fenster eines französischen Filmemachers, der eigentlich unbeteiligt, auf seine Weise aber hochinvolviert ist. In „Khaima“ bekommen wir afghanische Existenzen zu sehen, aber auch auch eine funktionierende Zivilgesellschaft in Griechenland. In „Fremd“ von Miriam Fassbender wird auf unübertroffene Art die besondere Zeitlichkeit des Lebens „auf Europa hin“ gezeigt: eine Bewegung aus Stillständen; zu warten nämlich ist das eigentliche Schicksal der Migranten.

Nicht alle Filme der Dok Film Woche beschäftigen sich mit dem Thema Flucht. Aber an der Auswahl lässt sich schön sehen, dass die Wahl des Sujets in der Regel schon der entscheidende Schritt zur Verwirklichung eines Projekts ist. In „Peak“ macht Hannes Lang deutlich, dass eine bestimmte Idee von Landschaft (in den Alpen) und Jahreszeiten (mit Schnee im Winter) und Freizeit (Skifahren) nur noch mit enormem technischem Aufwand simuliert werden kann. In „Schönheit“ macht Carolin Schmitz einen anderen „Naturzustand“ als Produkt extremer Künstlichkeit deutlich: das Erscheinungsbild als (Selbst-)Technik.

Kritische Authentizität

Dem steht die beunruhigende Authentizität von Britta Wandaogos „Nichts für die Ewigkeit“ gegenüber, einem im Grunde öffentlich gemachtem Privatfilm, für den die Filmemacherin über viele Jahre ihren drogensüchtigen Bruder Dirk begleitete. Nirgends wird die prekäre Beobachterposition deutlicher als in einer Szene, in der der „Protagonist“ mitansehen muss, wie seine Schwester sich erbricht, während sie gerade dreht – er meint, sie bekäme das gar nicht mit, aber vielleicht wollte die Filmerin nur um keinen Preis auf die Aufnahme verzichten.

Was Britta Wandaogo hier in die Krise geraten lässt, ist die Vorstellung von einem nüchternen Gegenüber im dokumentarischen Kino. Sie ist involviert, ist manchmal selbst „breit“, der Sicherheitsabstand ist gering. Und die zu überschreitende Grenze zieht der Protagonist Dirk ständig selbst. Das macht letztendlich den einen, entscheidenden Unterschied im dokumentarischen Kino aus: Es geht um Leben und Tod.

■ Dok Film Woche vom 9.–15. 8. in den Kinos fsk und Eiszeit