Hundert Wörter für Rost

CHARLEROI Scheitern als Karikatur – die hässlichste Stadt der Welt liegt in Belgien, war einmal eine Industriemetropole und wird nun hartnäckig von Künstlern heimgesucht. Ein Besuch bei der Künstlerresidenz „Hôtel Charleroi“ und ihrem großen Projekt

■ Geschichte: Ist nach Antwerpen und Gent mit etwa 200.000 Einwohnern die drittgrößte Stadt in Belgien und die größte Walloniens. Ursprünglich 1666 von den Spaniern als Festung angelegt, entwickelte sich die Stadt im 19. Jahrhundert zu einem Zentrum der Kohle- und Stahlindustrie. Die Schwerindustrie ist seit den 1960ern im Niedergang begriffen, den Strukturwandel hat die Region bislang nicht wirklich geschafft.

■ Kunst: Unsere Kulturreporterin Elise Graton besuchte Ende Juli die belgische Stadt, um über die dortigen Interventionen im öffentlichen Raum und die für Herbst geplante Kunstmesse zu berichten.

VON ELISE GRATON

Morgens um 7 herrscht in der Bahnhofshalle im belgischen Charleroi eine trübe Stimmung. An den vereinsamten Tischchen im Café wird Bier gefrühstückt. Draußen nieselt es, der Vorplatz leuchtet matt. Die kleine Brücke, die zur Innenstadt führt, ist menschenleer. Vor knapp einem Jahr wurden genau hier die PassantInnen von einer Kunstperformance überrascht: Um die dreißig Obdachlose standen den Besuchern der mit 200.000 Einwohnern größten Stadt Walloniens winkend zur Begrüßung gegenüber. Zum „Willkommen in Charleroi!“-Happening hatte der Künstler Thomas Verstraeten aufgerufen – im Rahmen der Künstlerresidenz Hôtel Charleroi.

„Die Arbeit wurde als zynisch empfunden“, berichtet Adrien Tirtiaux beim morgendlichen Kaffee im Hauptquartier der Residenz, einem dreistöckigen Haus im Stadtzentrum. „Der Künstler sieht das nicht so. Wir streiten immer noch darüber.“ „Wir“, das sind der Belgier Adrien Tirtiaux, der Österreicher Hannes Zebedin und der Franzose Antoine Turillon, die sich während des Studiums an der Akademie der Künste in Wien kennenlernten. 2010 initiierten sie Hôtel Charleroi. Dieses bietet von März bis August KünstlerInnen eine Unterkunft gegen die Beschäftigung mit Charlerois’ sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Sonderbarkeiten.

Die Initialzündung dafür geht auf Tirtiaux zurück. Obwohl er in der Nähe von Charleroi aufwuchs, war ihm, so sagt er, die drittgrößte Stadt Belgiens bis vor kurzem so gut wie unbekannt. „Ohne soliden Grund kommt hier keiner her“, sagt er. Erst als er eines Tages seinen Vater bei einer Reise begleitete, entdeckte er die eigenartige Mischung: eine imposante, acht Kilometer lange Industriemeile, die keine zehn Minuten Fußmarsch vom Stadtzentrum beginnt und von einer einst glorreichen Vergangenheit im Zeichen der industriellen Moderne spricht. Doch in den frühen 60ern begann der Abstieg, Charleroi hat sich vom Niedergang der Stahlindustrie nie erholt. Die alten Fabriken rosten vor sich hin, ein Viertel der Bevölkerung ist arbeitslos, das Straßenbild ist von Drogenhandel und Gewalt geprägt, die Politik taumelt von einem Korruptionsfall in den nächsten.

Wo man hinschaut, Tristesse: Müll, desolate Bürgersteige, viele Geschäfte verweist. Verblichene Plakate mit der Aufschrift „Wir sind umgezogen“ kleben an spartanisch vernagelten Türen. Tirtiaux kommentiert die Lage: „Um die Stadt zu retten werden hin und wieder unangemessen extravagante Baupläne für unerhörte Summen konzipiert – und abgesegnet. Die Arbeiten beginnen und werden gleich wieder abgebrochen, weil natürlich das Geld fehlt. Oder alles dauert unendlich lange, bis auch die letzten Geschäfte weggezogen sind.“

Ein anderes Beispiel. Die U-Bahn. 1960 wurde ein ausgeklügelter Linienplan entworfen, um die Stadt mit dem Umland zu verbinden. 1976 wurde der erste Streckenabschnitt feierlich eingeweiht. Heute sind gerade mal drei Linien in Betrieb. Die Strecke zur Kleinstadt Châtelet wurde zum Teil gebaut, jedoch nie in Betrieb genommen. „Die vier fertigen Stationen wurden vandalisiert, renoviert und wieder vandalisiert“, so Tirtiaux. Im Grunde gehe es ganz Wallonien ähnlich.

In ganz Europa gibt es jene postindustriellen Städte, die den Strukturwandel nur mühsam meisterten. „Aber hier, in Charleroi, wird das Scheitern zur Karikatur“, so Tirtiaux.

Seit 40 Jahren schaukelt die Stadt also planlos zwischen Nostalgie und Utopie. Leerstehende Gebäude und wuchernde Brachen sind nun für Hôtel Charleroi das Investigationsfeld, ein urbanes Labor, um künstlerisch die offenen Wunden zu bearbeiten. 2011 nahm die deutsche Künstlerin Anna Witt die Pulsschläge der BewohnerInnen eines Sozialbaus auf, verstärkte sie und beschallte damit die umliegenden Straßen. Annabel Lange aus Berlin renovierte liebevoll einen zentralen, verwahrlosten Stadtbrunnen, füllte ihn mit Wasser und warf ihr gesamtes Budget in Form von Ein-Cent-Münzen ins Wasser, kleine Anleihe beim Trevi-Brunnen von Rom.

2011 konnte so etwas noch ohne behördliche Genehmigung realisiert werden. Wohlwollen bei Presse und Stadtverwaltung führten nun ab September 2012 zur Erlaubnis, das städtische Messegelände mit seinen 40.000 Quadratmeter künstlerisch bespielen zu dürfen. Eine stolze Gesamtfläche. Das 1953 erbaute Prachtgelände liegt mitten im Zentrum und wird mittlerweile nur noch an gerade zwei Wochenenden im Jahr voll genutzt. Für Hôtel Charleroi ist das Messegebäude die Metapher der Stadt: glorreiche Vergangenheit, utopische Zukunftsvision und gegenwärtige Planlosigkeit. Nun wollen sie das Gelände zu einer Stadt in der Stadt umwandeln und Entwicklungsperspektiven aufzeigen. 30 internationale KünstlerInnen sind eingeladen, ihre Sicht auf Charleroi durch persönliche Arbeiten zu präsentieren.

Zersplitterte Spiegel

Ende Juli fand mit Künstlern eine erste Begehung des gigantischen Messegeländes statt. Die Überraschung war groß, die sechs riesigen Hallen sehen in Natura wesentlich abgetakelter aus als auf der Präsentationsbroschüre: zersplitterte Spiegel, zerbrochene Kacheln, unkoordinierte Wandfarben – und eine kleine Diskokugel, die einsam und verstaubt unter einer gigantischen Kuppel baumelt.

Doch zum Lachen war vielen nicht zumute. Der Däne Sören Engsted findet den Ort beängstigend. Auch Natasa Bodrozic, Kuratorin in Zagreb, kündigte Zweifel an: „Das wird schwierig“. Das Wiener Künstler-Duo Johanna Tinzl und Stephan Flunger ist hingegen schon voller Tatendrang. Sie wollen mit der in den 70ern gegründeten Punk-Band Sic aus Charleroi zusammenarbeiten. Textauszüge aus deren Songs „Factories“, „Dirty“, und „I hate my town“ möchten sie durch die Durchsagelautsprecher in den Hallen sprechen lassen.

Die Anlage würden sie am liebsten gleich testen. Die Koordinierungsleiterin der Geländes, Bénédicte de Dekker, meint dazu allerdings nur knapp: „Das ist kompliziert“, und springt genervt aus ihrem Bürosessel. Die Gruppe folgt ihr bis zu einer Kammer, die sie mit einem schweren Schlüsselbund öffnet. Darin: ein einsames Mikrofon. „Nur eine administrative Person darf das betätigen!“ Aber Dekker und ihr Team gefällt das Kunstprojekt, und sie will es „so gut wie irgend möglich unterstützen“. Nur jetzt sind gerade Sommerferien und einiges schwierig. Die Sicherheitsnormen müssten unbedingt eingehalten werden.

Ihr Telefon klingelt. Einer der Künstler fragt, ob in Halle 4 schon mit dem Bau einer kleinen Bühne begonnen werden kann. Dekker: „Das geht auf keinen Fall! In Halle 4 findet Ende August die Katzenmesse statt.“ Tirtiaux, der die Geduld der Leiterin nicht weiter strapazieren möchte, schlägt schließlich vor: „Wir können schon mal die Ziegelsteine für die Bühne besorgen. Im Rockerill werden wir bestimmt fündig.“

Zum ehemaligen Eisenwerk, das seit zehn Jahren vom Rockerill-Kollektiv als wohl einziges Subkultur-Zentrum der Stadt bespielt wird, führt die U-Bahn – entlang der imposanten Industriemeile. Beim Anblick des verrosteten Röhrenlabyrinths staunt Natasa Bodrozic nicht schlecht: „Ich hätte nie gedacht, dass ich 50 Kilometer von Brüssel Osteuropa wiederfinden würde.“ Hannes Zebedin versucht mit Poesie, die trübe Aussicht aufzuheitern: „Die Carolos (so nennen sich Charlerois BewohnerInnen) haben über hundert Wörter für Rost.“ Tirtiaux fügt hinzu: „Und wo kann man schon für 1 Euro 70 Geisterbahn fahren?“

Und tatsächlich: Als Charleroi 2008 von einer niederländischen Zeitung zur „hässlichsten Stadt der Welt“ gekürt wurde, witterte ein findiger Bürger, Nicolas Buissart, seine Chance und rief eine urbane Safari der düsteren Art ins Leben, bei der man wahlweise das Haus, in dem René Magrittes Mutter Selbstmord beging, oder die angeblich deprimierendste Straße Charlerois besichtigen kann, um zum Abschluss noch über eine rußige Berghalde zu klettern. Damit hat er Erfolg: Selbst die amerikanische NBC berichtete begeistert über die Tour. Nur das lokale Tourismusbüro findet das Projekt kontraproduktiv. Tirtiaux sieht das nicht so. „Er zeigt mit Humor, was die Stadt besonders macht.“

In Hôtel Charlerois Ausstellung sollen auch alle, die in der Stadt Initiative ergreifen, einen Platz bekommen, wie etwa das lokale Roller-Derby-Team, das vergeblich nach einem Raum zum Trainieren sucht, oder der Sozialarbeiter, der im Alleingang mit Obdachlosen campt. Buissart wird auch hier durch die Ausstellung führen, und die Metallos vom Rockerill sollen die Bar gestalten.

Beim Rockerill angekommen, wird das Tor zur riesigen Metallwerkstatt von Benito Dussart geöffnet. Der ehemalige Opernmaler begleitet die staunende Gruppe durch drei kathedralenartige Hallen, in denen „kein Moos wächst, ist ja auch alles mit Asbest verseucht“. Aber leider sind auch hier keine Ziegelsteine für die geplante Bühne zu holen. „Die Kinder haben die alle geklaut“, bedauert Dussart. „Sie putzen und verkaufen sie an reiche Leute im Umland, die ihre Häuser renovieren“ – ein in Charleroi gerade florierender Wirtschaftszweig.

Da erreicht die Gruppe ein entsetzter Anruf zweier KünstlerInnen, die gerade in der Stadt unterwegs sind. „Wir haben einen Hund gefunden.“ Aufgeschreckt von einem leisen Winseln, fanden sie das Tier, halbtot, eingekeilt in einem winzigen Mülleimer. Jemand hatte ihn wohl nicht mehr gebraucht und da hineingequetscht.

Später am Abend trifft sich die ganze Gruppe beim Bier, um sich gegenseitig Mut zu machen. „Der Hund wird es wohl überleben, meinte das Tierheim.“ Der Leipziger Fotograf Louis Volkmann, der sich am Morgen mit den Worten verabschiedete: „Ich habe Charlerois Norden, Westen und Süden abfotografiert“, hat nun auch den Osten im Kasten. Die Wienerinnen Paula Pfoser und Eva Engelbert konnten einen Film über ferngesteuerte Autos drehen – das beliebteste Hobby der Carolos –, wurden allerdings polizeilich vom Drehort abgeführt: „Das nächste Mal bitte nur mit Genehmigung.“

Charleroi wurde 2008 von einer niederländischen Zeitung zur „hässlichsten Stadt der Welt“ gekürt

Tinzl und Flunger haben nach langer, bürokratischer Odyssee ihre Ziegelsteine auf einer städtischen Müllhalde gefunden. „Wir mussten zuerst den Direktor anrufen, der uns dann bat, dem Generaldirektor einen Brief zu schreiben. Letztlich aber hatte der Wächter Mitleid mit uns.“ Tinzl wuchtet einen Stapel Werbebroschüren der Müllhalde auf den Tisch: „Die hier hat er uns noch schnell durch die Autotür geschoben, mit den Worten: Falls ihr wiederkommt, hier stehen die Öffnungszeiten.“ In Charleroi ist man wohl schnell per Du – und einen Plan B gibt es immer.

Genau dieser Mixtur aus Elend, kafkaesker Bürokratie und Anarchie will das Ausstellungskonzept Rechnung tragen. So soll 10.000 leeren Arbeitslosenanträgen, auf die Tirtiaux und Co bei ihrer Recherche im Stadtarchiv stießen, ein Ehrenplatz eingeräumt werden: „Irgendein Beamter hatte sich bei der laufenden Nummerierung der Anträge verschrieben. Damit aber danach kein Korruptionsverdacht aufgrund der klaffenden Lücke aufkam, wurde einfach eine halbe Tonne leerer Formulare nachgedruckt und sofort sorgfältig archiviert. Natürlich unausgefüllt.“ Ein weiteres Juwel der Ausstellung wird ein Gemälde des von 1983 bis 2000 regierenden, künstlerisch ambitionierten Bürgermeisters. Seine bunte „Sicht auf den Hafen von Bastia“ kaufte ihm das wohlwollende wallonische Parlament mit Steuergeldern ab. Seitdem lagert es im parlamentarischen Kunstarchiv. Pikantes Detail: Der sozialistische Hobbymaler war natürlich selbst Teil des Entscheidungsgremiums.

Die Lücken der Stadt

Dank Bier, Anekdotenreichtum und warmer Abendluft sind inzwischen alle wieder guter Dinge. Nur Tirtiaux scheint nicht besonders entspannt. Sein Marathon ist noch längst nicht vorbei: Morgen früh trifft er sich mit Jean Yernaux, früherer Praktikant bei der Konzeption des Messegeländes und später Charlerois hauptamtlicher Stadtarchitekt. „Bei sich bewahrt er unzählige Zeichnungen und Pläne von nie realisierten Projekten!“ Sie dokumentieren die Lücken der Stadt, wie etwa die Entwürfe einer nie entstandenen städtischen Universität, und sollen das Kernstück der Ausstellung bilden. „Aber er sieht sich in erster Linie als Diener der Stadt und scheut den Kunstkontext.“

Yernaux’ Büro befindet sich in den luftigen, hohen Etagen eines Neubaus. Von dort blickt man über die ganze Stadt. „Die Aussicht könnte schöner sein“, grummelt der kleine Mann mit den hellblauen Augen. Seine nicht realisierten Visionen sammelt und archiviert der 82-Jährige in großen Ordnern mit der Aufschrift „Architektonische und urbanistische Projekte 1960–2000“. Die Entwürfe lassen Charleroi wie Tokio, Abu Dhabi oder eine Raumstation aussehen. Schwärmerisch blickt Yernaux auf sein Werk: „Ich liebe Beton“, und man spürt seinen Eifer, den Charleroi leider momentan nicht mehr gebrauchen kann. Stolz erzählt er von seinem größten Triumph, dem „kleinen Ring“, einer dreispurigen Einbahnstraße um Charlerois Stadtkern. Die massive Betonschlange hoch über den Häusern half zwar, die Struktur der inneren Boulevards zu erhalten, umliegende Stadtteile wurden jedoch durch den Bau abgeschnitten und völlig entstellt. „Ich habe aus Überzeugung gehandelt“ sagt er beherzt, und mittlerweile sei der Ring den Carolos ans Herzen gewachsen.

Tirtiaux kennt die Geschichte aus der anderen Perspektive und denkt sich im Stillen, dass die Pläne in der Ausstellung unbedingt streng bewacht werden müssten. Handgreiflicher Zorn der BürgerInnen ist nicht unwahrscheinlich. Seine Gedanken werden von Yernaux’ Frage unterbrochen: „Was halten deine internationalen Gäste eigentlich von Charleroi?“ Tirtiaux: „Sie sind nicht ungleichgültig.“

Der kleine Architekt fühlt sich bestätigt: „Ja! Das wundert mich nicht. Charleroi ist immer noch die Stadt der unendlichen Möglichkeiten!“ Tirtiaux wird sich jetzt um genügend Aufsichtspersonal kümmern müssen, er darf Yernaux’ Pläne in der Ausstellung zeigen.

Hôtel Charlerois Ausstellung „Ville en abîme“ öffnet seine Türen an zwei Wochenenden: Vom 31. 8. bis zum 2. 9. und vom 7. 9. bis zum 9. 9. im Palais des Expositions von Charleroi