Der Pianist bricht das Konzert ab

FIGUREN Fast alle sind auf dem Weg zum Ereignis, manche kommen dort aber nicht an. Alain Claude Sulzers Roman „Aus den Fugen“ über Verlust- und Beziehungsängste

Ein Knäuel sich kreuzender Lebenslinien, zusammengebracht bei einem Ereignis – doch eher Fernsehunterhaltung

Manchmal, beim Fernsehgucken, stellt sich dieses Gefühl ein: Der Film spielt zwar in der Stadt, in der man selber lebt, aber jedes Setting wirkt falsch, aufgehübscht, hochgetunt, wie aus dem Werbeprospekt statt aus der Realität. Und als ob die Unglaubwürdigkeit des Milieus auf die Figuren zurückstrahle, nehmen auch deren Konturen etwas Künstliches an. Wie Ausschneidefiguren aus dem Katalog bewegen sie sich vor dem falschen Hintergrund.

Etwas von diesem Misstrauen gegenüber dem sozialen Setting und der Glaubwürdigkeit der Figuren trübt das Vergnügen an der Lektüre des Buches „Aus den Fugen“, dem siebten Roman des Schweizers Autors Alain Claude Sulzer. „Aus den Fugen“ spielt in Berlin, der Autor dankt auf der letzten Seite der UBS Kulturstiftung für die Möglichkeit, dort ein halbes Jahr gelebt zu haben. Man fährt Taxi in seinem Roman, U-Bahn nur gezwungenermaßen. Zwischen einer Mäzenatenvilla in Zehlendorf, Eigentumswohnungen, Hotels und Nobelrestaurants in Mitte entwickelt er ein vielfiguriges Panorama von Figuren, die alle auf dem Weg zu einem Klavierkonzert in der Philharmonie sind, auch wenn einige nie dort ankommen: Ein reicher Geschäftsmann auf der Durchreise, eine Dame vom Escortservice, ein Konzertagent, ein Aushilfskellner, der Pianist selbst, eine Arztgattin … sie alle lernt der Leser am Tag des Konzerts kennen. Die Erzählabschnitte sind mit ihren Vornamen überschrieben. Bis man diesen Figurenkreis das erste Mal ausgeschritten hat, zieht sich die Exposition etwas hin.

Meine Lieblingsfigur ist Astrid, seit Jahren die stille Begleiterin des Pianisten Marek Olsberg, ihm den Rücken von allen lästigen Kontakten freihaltend – klaglos leidend an ihrer unerwiderten Liebe zum egomanen Künstler. Sie ist alles andere als ein role model, ihre Ergebenheit erschreckend, ihre Selbstaufgabe peinigend – aber gerade in diesen Charakter, dem man sich nur mit Widerwillen nähert, führt Sulzer mit großer Sensibilität ein, lässt ihre Furcht vor der Migräne physisch so anschaulich werden, dass man sich mit ihr nach Dunkelheit und Stille sehnt. Doch eine solche Fähigkeit, gerade vom Empfinden einer Person, die man sich eigentlich gerne vom Leib halten würde, zu überzeugen, kommt bei den übrigen zu kurz.

Die Absolutheit, mit der das Leiden über sie herrscht, hat etwas Abgedrehtes – vielleicht die Prise Wahnsinn, die den anderen Figuren dann doch eher fehlt. Nicht mal zum Enthusiasmus des Bildungsbürgers reicht es bei ihnen, noch bei Sulzer zu einer Kritik ihrer Lauheit.

Richtig Fahrt nimmt der Roman vor allem im letzten Drittel auf: wenn sich in jeder der inzwischen entwickelten Geschichten eine dramatische Zuspitzung ergibt, die dem Romantitel „Aus den Fugen“ gerecht wird. Der Pianist Olsberg, der unvermutet sein Konzert abbricht, ist der Katalysator; mit diesem Moment, den er selbst als Befreiung aus einer Spur erlebt, die sein ganzes Leben lang schon vorgezeichnet schien, legt sich auch in den anderen Geschichten ein Hebel um; Esther etwa, die ihre Freundin Solveig, die von ihrem Mann verlassen wurde, nur aus Mitleid ins Konzert begleitet und vor sich selbst schlecht nur ihre Verachtung für gesellschaftliche Verlierer verbergen kann, schlittert durch das verfrühte Nachhausekommen selbst auf eine unangenehme Wahrheit zu. Nicht nur in ihrer Geschichte verbindet sich dabei die Verlustangst in der ehelichen Beziehung eng mit der Angst vor dem Verlust von sozialem Status und materiellem Besitz. Dass nichts zu haben auch das Sein sehr klein macht, bedrückt in dem Roman auch die Protagonisten am anderen Ende der sozialen Skala, den Aushilfskellner Lorenz und Saturnverkäufer Nico.

In seiner polyphonen Komposition erinnert „Aus den Fugen“ an die gesellschaftlichen Panoramen, die etwa in den Filmen des amerikanischen Regisseurs Robert Altman entwickelt werden: ein Knäuel sich kreuzender Lebenslinien, zusammengebracht bei einem Ereignis. Aber dann liest sich das Buch doch eher wie gute Fernsehunterhaltung und weniger wie großes Kino. Zu viel ist vorhersehbar, zu wenig überraschend. KATRIN BETTINA MÜLLER

Alain Claude Sulzer: „Aus den Fugen“. Galiani, Berlin 2012, 230 Seiten, 18,99 Euro