Sozialarbeiterin in Berliner Problembezirk: Manchmal wird es intimer

Der Schwerpunkt ist das Baby, aber dabei bleibt es nicht: Frau Scholz betreut beim Jugendgesundheitsdienst Berlin seit 20 Jahren Kinder, Jugendliche und Erwachsene.

Das Kleinkind hat keine Lobby. Bild: mys / photocase.com

Frau Scholz wohnt mit ihrem Mann und der jüngsten Tochter im Süden Berlins, Hochparterre in einer alten Villa mit Garten. Ihr Mann ist Musiker. Wir sitzen bei grünem Tee an einem heißen Augusttag im Freien und plaudern. Von drinnen ertönt Klavierspiel, die jüngste Tochter macht ihre nachmittäglichen Übungen. Frau Scholz hat drei Töchter und mehrere Enkel. Sie ist ein kompletter Familienmensch, nur wenn alle da sind, fühlt sie sich rundherum wohl. Heute musste sie auf Grund unseres Gesprächs auf alle Besucher verzichten.

Sie erzählt. „Ich arbeite im Jugendgesundheitsdienst in einem der Berliner Bezirksämter, und zwar in einem der ’schwierigen Bezirke‘, mit sehr hohem Migrationsanteil. Früher hieß das Säuglingsfürsorge, ist aber in etwa das Gleiche. Im Prinzip ist der Jugendgesundheitsdienst für Kinder von 0 bis 18 Jahre zuständig, unsere Hauptaufgabe sind aber Neugeborene und Kleinkinder bis zu zwei Jahren.

Man kann sagen, der Schwerpunkt ist das Baby. Die Aufgaben sind zahlreich, aber leider ist unser Mitarbeiterinnenstab geschrumpft worden in den letzten 20 Jahren. So über den Daumen weit über 50 Prozent. Einsparmaßnahmen. Die Politik macht sich gar nicht klar, dass jede Einsparung in diesem Bereich die Probleme nur um so schlimmer in die Zukunft verlagert.

Gute Frage, was mache ich? Ich mache zum Beispiel den sogenannten Ersthausbesuch. Also ich bekomme vom Einwohnermeldeamt die Information, dass ein Kindlein geboren ist. Und aufgrund dieser Mitteilung, mit den Kopfdaten des Kindes und der Mutter bzw. der Eltern suche ich diese Familie auf und informiere sie darüber, was es für Möglichkeiten und Hilfsangebote gibt für diese neue Lebenssituation. Das Angebot wird jedem gemacht, unabhängig vom sozialen Status, aber Professorenfamilien sind natürlich eher nicht unsere Klientel.

Der Besuch wird angemeldet, er ist ein absolut freiwilliges Angebot. Ausgenommen in solchen Fällen, wo Drogen, aber auch Gewalt in der Familie eine Rolle spielen, oder natürlich bei sexuellem Missbrauch. Da kommen wir dann auch unangemeldet und versuchen zu helfen und vor allem das Kindeswohl zu schützen. Das Leben des Kindes steht ja höher als das Elternrecht. Manchmal, allerdings nur in seltenen Fällen, kommt es dann auch in letzter Konsequenz zum Kindesentzug.

Dabei arbeiten mehrere Personen zusammen. Seit ein paar Jahren gibt es Kooperationsvereinbarungen mit dem Krankenhaus, wenn also die Stationsärzte, Hebammen auf Station, die Kinderkrankenschwestern zu dem Resultat kommen, dieses Neugeborene ist gefährdet, wenn wir es aus der Klinik geben, dann werden wir und die Kollegen vom Jugendamt eingeschaltet. Einer allein könnte eine solche Verantwortung gar nicht übernehmen.

Verwechslung mit dem Jugendamt

In der Regel aber ist alles normal. Allerdings werden wir viel verwechselt mit dem Jugendamt, die lesen da Amt und sehen ein rotes Tuch! Es gibt die sogenannten jugendamtserfahrenen Familien, wo also schon die Großeltern … also immer wieder Probleme hatten, wo Alkohol eine Rolle spielte usw. Das ist schwierig, denn entweder funktionieren die wie der ’dressierte Hund‘, oder sie sind ganz abweisend oder sogar aggressiv. Kann man ihnen vielleicht gar nicht mal vorwerfen, wenn man sich hineinversetzt. Diese Menschen wollen ja auch überleben und wollen nicht kontrolliert werden.

Und es gibt natürlich eine Menge anderer Probleme bei Familien mit Migrationshintergrund. Oft haben die türkischen und arabischen Kinder der zweiten Generation immer noch einen sehr geringen Schulabschluss, alle wissen, wir haben da was verdammt falsch gemacht, es wird die Schuld aber den Leuten einseitig in die Schuhe geschoben. Eines der großen Probleme ist das Sprachproblem. Dolmetscherinnen gibt es nicht, kein Geld da. Mit der Zeit lernt man dann, wie man dennoch weiterkommt.

Es hat sich einiges geändert in den vergangenen Jahren, teils sind die Sprachprobleme größer geworden und die Unterschiede zwischen türkischen und arabischen Familien sind ein bisschen kleiner geworden. Die türkischen Familien sind ’deutscher‘ geworden. Es gibt nur noch wenige dieser klassischen Großfamilien. Bei den arabischen Familien findet man das noch häufiger, sieben bis acht Kinder. Gut, aber ich konstruiere jetzt mal den Ersthausbesuch bei einer verheirateten, einfachen, jungen, arabischen Mutter und ihrem ersten Kind, alleine in der Wohnung.

Mangelhaftes Deutsch

Obwohl sie in Deutschland geboren ist, ist ihr Deutsch sehr mangelhaft. Viele dieser Frauen sind mit ihrem Kind alleine zu Hause und haben keine Ahnung, dass und wo sie Hilfe bekommen können. Sie hätten schon während der Schwangerschaft Anspruch gehabt auf Zuwendungen, z. B. was Umstandskleidung betrifft und auch Säuglingserstausstattung, Wiege usw. und auch auf die Betreuung durch eine Hebamme, sie wussten es aber nicht. Und nun sitzen sie alleine zu Hause und haben nicht mal eine Hebamme, die ihnen hilft und mit Rat und Tat zur Seite steht.

Arabische Familien stehen Hebammen oft ablehnend gegenüber, weil das Frauendomäne innerhalb der eigenen Familie ist. Manchmal aber gibt es solche Unterstützung gar nicht mehr. Und das ist sehr schlecht, wenn es Komplikationen gibt. Man entlässt die Mütter heute ja extrem früh aus dem Krankenhaus, auch Kinder mit wenig Gewicht, aus Geldgründen. Und im Krankenhaus war keine Zeit, der Mutter die wichtigsten Regeln zu vermitteln. Dann sitzt sie eben plötzlich wieder zu Hause, mit einem Kind, das vielleicht den ganzen Tag schreit, das vielleicht grade nur 2.100 Gramm wiegt, sie hat keine Hilfe beim Stillen.

Oft ist aber auch eine Mutter da oder eine Tante, die hilft, die selber mehrere Kinder geboren hat und erfahren ist. Die kennen sich aber vielleicht nicht mit allem aus, z. B. nicht mit Milchstau oder damit, dass die Gebärmutter sich zurückentwickeln muss und dass es zu diesem Zweck eine Rückbildungsgymnastik gibt und dass das sehr wichtig ist, für die Gesundheit der Mutter. Überhaupt ist es oft erstaunlich, dass Informationen, obwohl sie schon lange hier leben, gar nicht bei ihnen angekommen sind, weil sie sich in ihrer Welt bewegen und es gar nicht bemerken. Nun aber sitzen sie zu Hause mit dem Kind und sind oft sehr unsicher, weil sie nur wenig Deutsch sprechen.

Aber sie sind, wie gesagt, sehr offen. Wenn ich klingle, öffnen sie die Tür oft verschleiert, und wenn man im Wohnzimmer ist, nehmen sie den Schleier dann ab, aber nur gegenüber einer Frau natürlich. Sie sind gastfreundlich, aber darin sind sie schon sehr ’eingedeutscht‘. Ich halte mich sehr zurück, z. B. mit diesem klassisch deutschen Händeschütteln, ich warte immer erst ab, wie es sich entwickelt.

Natürliche Gastfreundschaft

Bei Hausbesuchen vor 15 bis 20 Jahren, da saß dann z. B. eine junge kurdische Familie in ihrem Wohnzimmer, da war die Schwägerin, die Mutter, erwachsene Töchter und vielleicht eine Großmutter, und wenn man da um 11 Uhr kam, wurde man zum türkischen Frühstück eingeladen, mit Oliven, Gurken, Wurst, Tee und allem. Ohne Hintergedanken, einfach nur so, aus natürlicher Gastfreundschaft. Man darf das nicht ablehnen. Für mich war es natürlich sehr ungewohnt und auch ein bisschen belastend, denn zum Hausbesuch gehört Abstand und Distanz, denn irgendwie verkörpert man ja doch die Behörde?!

Also in vielen Dingen haben sie deutsche Gewohnheiten angenommen, aber in manchem auch nicht, da leben die Kulturunterschiede weiter. Beispielsweise in der Wohnungseinrichtung. So ein Wohnzimmer, das sieht in der Regel schon anders aus als die deutschen Wohnzimmer. Sie sind zwar ganz unterschiedlich eingerichtet, aber was es fast immer gibt, sind so kleine glitzernde Sachen, goldene Bilderrahmen und viele Fotos. In jedem Wohnzimmer hängen diese Suren aus dem Islam in einem großen goldenen Rahmen.

Das ist das zentrale Schmuckstück, prächtig. Und daneben große Hochzeitsbilder an der Wand, Bilder von Verwandten und Kindern. Zwar steht auch bei ihnen der Fernseher im Mittelpunkt, er wirkt aber nicht so. Sie haben keine klassischen Wohnzimmertische. Die Frauen bringen das Essen für die Familie auf Tabletts herein mit Untergestell, es gibt Beistelltischchen. Daher ist es nicht so voll, sie haben es gern geräumiger. Und die meisten Wohnungen sind sehr, sehr gepflegt, alles ist absolut geordnet, strukturiert.

Das Wohl des Säuglings

Aber mein Besuch gilt dem Wohl des Säuglings und der Mutter, alles andere nehme ich nur so am Rande wahr, ich erzähle es jetzt nur, weil Sie mich danach gefragt haben. Was ich vergessen habe zu sagen, die meisten sind natürlich nach dem SGB II leistungsberechtigt – ich mag das Wort Hartz-IV-Empfänger nicht –, und da hat man ja kaum Geld, um auch noch Kindersachen zu kaufen. Deshalb gibt es die Pauschale.“ (Nach Ansicht des Landessozialgerichtes Berlin-Brandenburg ist für alle mit der Geburt eines Kindes entstehenden Bedarfe ein Betrag von rund 500,00 Euro zu leisten, für eine Wickelkommode, Babykleidung, Kinderbett etc. Anm. G. G.)

Die Frauen leben ja heute anders, als ihre Großmütter noch gelebt haben. Im ländlichen Bereich war es durchaus nicht unüblich, dass die Frauen ein Kind im Alter von vier, drei, zwei und ein Jahr hatten und vielleicht dazu einen Säugling. Aber dort haben sie natürlich auch in den Nebenhäusern, im Nachbardorf die Tante, die Großtante, Schwiegermutter usw. und keinen Verkehr auf der Straße. Dann geht das natürlich ganz anders mit den Kindern, weil die Hilfe für die Frauen viel größer ist. In der türkisch-arabischen Kultur, in der islamischen Kultur, ist es allerdings so, dass die Frau normalerweise einen relativ langen Freiraum hat, also nicht unbedingt in einem Abstand von unter zwei Jahren ein Kind gebären muss. Aber vielerorts passiert es eben einfach, und sie machen keine Familienplanung, in unserem Sinne.

Hier hingegen ist die Frau mit ihrem Kind alleine. Wenn ihre Mutter vielleicht tagsüber arbeitet oder sie gar keine Verwandten hier hat, sitzt sie erst mal ratlos da. Und dann fallen die Frauen genauso in eine – ich sag’s mal böse – Isolationshaft wie die deutschen Frauen auch. Sie sind eingesperrt in ihre vier Wände. Oft kommt es zum ’Babyblues‘, eine Stimmung, die sich natürlich auch aufs Kind überträgt. Es kann ja sein, dass sie mit einem Wunschkind dasitzt und trotzdem traurig und betrübt ist. Und das ist eben auch Bestandteil unseres Angebots, dass wir das besprechen.

Für viele Frauen ist es schon eine richtige Erleichterung, zu hören, es gibt nicht nur den 'Babyblues', sondern auch schwere Depressionen und Psychosen nach Geburten, weil der Körper sich einfach nicht reguliert. Man kann eben nichts machen, gegen die Hormone des Körpers. Und sie sehen dann, dass es bei ihnen alles ganz normal und nicht so schlimm ist. Es gibt ja auch die sogenannte Stilldemenz, das ist nichts Unnormales, man muss eben nur über diese Möglichkeiten informiert sein. Die lächelnde und gut gelaunte Mutti in der Werbung, mit dem Baby auf dem Arm: 'Juhu, was bin ich glücklich!‘, die gibt es in der Realität eher selten.

40 Tage sind keine Ewigkeit

Die meisten Frauen haben nach einer Geburt körperliche Probleme, das fängt schon damit an, dass viele nach der Geburt nicht ohne Schmerzen sitzen können, durch Dammriss oder Dammschnitt, Entzündungen der Wunde usw. Oder die Rückbildung funktioniert nicht so richtig. Das geht eben alles nicht so schnell. Und in der arabisch-türkischen Kultur, da gibt es diese 40 Tage nach der Geburt eines Kindes, in dieser Zeit hat die Frau eine richtige Ruhepause.

Eigentlich muss die Gemeinschaft ihr das Essen ans Bett bringen, sie pflegen, ihr alles abnehmen an Arbeit. Gut, 40 Tage sind keine Ewigkeit, aber sie kann wenigstens in der Zeit in Ruhe heilen, ihre große, innerliche und oft auch äußere Wunde, die durch die Geburt entstanden ist. Und sie kann mit ihrem Kind entspannt Kontakt aufnehmen. Früher gab’s das ja auch bei uns, unter dem Decknamen ’Wochenbett‘. Das waren auch so um die 40 Tage, schließlich dauert ja der Wochenfluss – diese Absonderung bei der Reinigung der Gebärmutter – auch seine sechs Wochen.

Ich erkläre der Frau also all diese Dinge, und ich sage ihr, was für Hilfen und Beihilfen ihr so zustehen, z. B. für die Erstausstattung, für ein Kinderbettchen usw. An diesem Punkt übrigens gibt es bei einer anderen Gruppen, den Roma, die ich besuche, immer ein bisschen Unverständnis. Wickelkommode, Kinderbettchen, wozu? Sie haben es einfach gelernt ohne, es auch unter schlechten Bedingungen gut zu machen. Auf uns – also jetzt nicht auf Sie und mich – wirken die vielleicht befremdlich, diese Menschen, mit ihren anderen Sitten.

So ein Ersthausbesuch bei einer Roma-Familie, der ist wieder ganz anders. Es sitzen dann ganz viele Frauen da, vielleicht auch ein paar Männer sind anwesend. Die Großeltern sind oft zurückgeblieben, bei dieser momentanen Flucht, und passen zu Hause auf. Diese Frauen fehlen natürlich und die Sicherheit, die sie normalerweise geben, den Rückhalt. Deshalb ist es sehr wichtig, dass wir kommen und Hilfen anbieten.

Und alle hören zu. Alle sind sehr, sehr interessiert an dem Baby. Oft spricht dann ein großes Mädchen, das gut Deutsch kann, das schon die Schule besucht. Es übersetzt, was ich über Hilfestellungen usw. erzähle. Sie sind um ihre Kinder sehr besorgt, die ganze Familie, und was dann wieder nicht in unser System passt, sie kommen mit dem ganzen Clan in die Sprechstunde. Also sie versorgen ihre Kinder sehr gut, es gibt eher das Problem, jetzt mal zwei Wochen nichts zu machen, abzuwarten, bis es von allein wieder weggeht.

Und die Art, wie sie mit dem Neugeborenen leben, ist hier natürlich unvorstellbar. Sie kommen meist aus Bulgarien und Rumänien, sind sehr arm und können nicht verstehen, warum hier Mütter ein Kinderbett haben. Die haben ihr Kind seit Menschengedenken neben sich liegen, und das ist für sie ganz normal. Nur, wie soll ich das jetzt erklären, mit dem Kinderbettchen, wie soll ich die Informationen über ’plötzlichen Kindstod‘ plausibel machen?! Jeder Kinderarzt würde sagen, das Kind muss auf dem Rücken liegen, in einem eigenen Bett, weil sonst – prozentual – mehr Kinder einen ’plötzlichen Kindstod‘ sterben. Das ist im Moment Thema. In Holland waren die letzten Studien.

Emotionale Angelegenheit

Und ich muss das vermitteln, muss die Gefahren benennen und dafür sorgen, dass ein Bettchen angeschafft wird. Ich persönlich glaube da nicht so unbedingt dran. Es gibt Kulturen, bei denen das Bett wächst, im asiatischen Raum, da ist das erste Bett nur 1,20 Meter groß, es kommt in die Mitte, dann das zweite, dritte, vierte, fünfte und sechste ’Bett‘, und darauf liegen dann alle. Und das Neugeborene auch. Es gibt natürlich keine Untersuchungen darüber, ob dann daran mehr Kinder sterben, ich glaube aber eher, dass die Mütter das dann schon längst geändert hätten. Es gibt Vermutungen, dass Kinder, die nicht angenommen sind, eher sterben. Das ist schon eine sehr starke emotionale und physische Angelegenheit, diese Beziehung zwischen Mutter und Kind, die wir aber nicht so messen können.

Also, obwohl ich weder Wissenschaftlerin noch Medizinerin bin, sondern nur dreifache Mutter, würde ich sagen, eine stillende Mutter, die biologisch und psychisch normal intakt ist, die wird sofort wach und wird ihr Kind nicht im Schlaf ersticken. Das halte ich für völlig ausgeschlossen. Sogar Elefanten können das! Studien sind ja immer so eine Sache, es gibt viele Frauen, die Schlafmittel nehmen, Psychopharmaka, Drogen, Alkohol usw.

Ich weiß nicht, wie das evaluiert wird und ob das einfließt in die Studien. Aber wie auch immer, die Gefahr ist nun einmal amtskundig, und wir müssen ihr entgegentreten. Ein anderes Problem gibt es, sie sind ja EU- Bürger und jeder EU-Bürger darf sich in Europa frei bewegen. Die sind also nicht illegal hier, was viele ja automatisch denken! Und sie sind auch keine Flüchtlinge, obwohl viele zu Hause angegriffen und vertrieben werden, als Zigeuner.

Sie sind sehr arm, sind diese Armut aber gewöhnt, können damit umgehen. Aber sie sind hier nicht krankenversichert als europäische Bürger, weil sie zu Hause nicht versichert sind. Da greifen dann die Abkommen nicht. Und das ist ein großes Problem. Die aus dem ehemaligen Jugoslawien, die schon länger hier sind, bei denen haben die Kinder bereits sehr schlechte Zähne bekommen, weil sie sie ungebremst Süßigkeiten essen lassen. Und die anderen haben zwar gute Zähne, aber zur Geburt oder bei schweren Erkrankungen müssen sie ins Krankenhaus.

Ihnen einfach zu sagen, ihr müsst nach Rumänien oder Bulgarien zurückfahren, euch krankenversichern und darüber eine Bestätigung mitbringen zur Vorlage, das geht ja wohl auf keinen Fall! Das geht vollkommen an ihrer Lebensrealität dort vorbei. Es wird ihnen ihr Leben überall schwer gemacht, man will sie eigentlich nicht haben und man will diese Form des ungeordneten und wilden Lebens nicht akzeptieren. Ich habe junge Familien, da bekommen die Frauen mit 16 ihr erstes Kind, und diese Frauen, selbst noch ein wenig Kind, sind in der Lage, mit 16 ein Kind absolut toll großzuziehen. Die haben das gelernt in ihrer Familie. Die können kochen, können ein Kind wickeln, ihm Brei und Tee kochen, können wickeln und stellen sich beim Stillen nicht so an wie die deutsche Frau. Sie verstehen uns nicht, z. B. Vorsorge, was soll das?! Man geht dann zum Arzt, wenn ein Kind oder die Mutter sehr krank ist.

Sie haben hier ihr Kind bekommen, und ich finde, ein Land hat eine Verantwortung für die Kinder, die hier geboren sind und wahrscheinlich auch hier bleiben. Und wenn wir wieder so damit umgehen … Diese Menschen sind nun mal hier, ihre Kinder sind hier und haben ein Recht auf ein gesundes Großwerden. Sie können oft weder lesen noch schreiben. Wer nicht lesen kann, kann vielleicht viele andere Dinge, die hier keiner kann? Wir machen einfach zu viel fest an diesen kognitiven Fähigkeiten. Ich denke, ein Mensch, der nicht schreiben und lesen kann, der muss sehr intelligent sein, sonst kommt er gar nicht durch ein Leben voller Schriften, Vorschriften und Zahlen.

Immer dieses blöde Gerede

Sie müssen hier ein Anrecht haben auf die Chance, ganz normal am Bildungssystem teilnehmen zu können. Stattdessen immer dieses blöde Gerede: ’Die kommen doch nur, damit sie hier alles kriegen!‘ Also die wollen nicht auf den Strich gehen oder stehlen müssen, um hier leben zu können, aus diesem Zwangskontext, so wie er jetzt ist, wollen sie raus. Aber sie haben gar nichts, keine Absicherung, keine richtige Unterkunft, nichts. Es gibt da zwei Organisationen in Berlin, die machen gute Arbeit, einmal die Malteser, mit ihrer Migrantenmedizin, die kostenlos behandeln, und dann die mobile Anlaufstelle Amaro Drom e. V., die betreuen europäische Wanderarbeiter und Roma, und sie machen Konfliktintervention gegen Antiziganismus. Die haben Dolmetscher und haben sich spezialisiert.

Zurück zum Hausbesuch. Bei der Beratung geht es auch darum: Was ist ein Kitaplatz, was ist ein Krippenplatz, was ist eine Tagesgroßpfleg, was leistet eine Tagesmutter und wie viel muss man für ihre Leistung mehr zahlen? So ein Hausbesuch, der dauert so 40 bis 50 Minuten, manchmal auch länger, denn oft haben sie zum Schluss noch Fragen. Beispielsweise Probleme finanzieller Art, Überschuldung. Wie haben ja über Hartz-IV-Sätze gesprochen, wenn da mal der Kühlschrank oder die Waschmaschine kaputtgeht, das ist eine Katastrophe.

Sie müssen ja alles über einen Kredit bezahlen. Und wenn dann auch noch die Strom- und Gasrechnung kommt, die natürlich über dem Limit liegt, weil alles teurer wird, schon sitzt man in der Mausefalle, hat Kreditschulden, kann die Zinsen nicht zahlen, die Mahngebühren. Wenn ich dann auch das Anschreiben nicht verstehe und die Widerspruchsfristen nicht einhalte, weil ich sie nicht verstehe, dann lande ich sehr schnell ganz unten. Das ist ja sogar so bei ’unseren Leuten‘.

In Berlin setzt sich das zusammen, wie ich versucht habe zu beschreiben, aus arabischen, türkischen, bulgarischen, rumänischen, vietnamesischen und südeuropäischen Babys. Die besuchen wir alle, bis hin zu den deutschen Familien, bei denen ja auch das Problem vorherrscht, dass viele Jugendliche den Anschluss verloren oder nie gefunden haben, Erwachsene werden und dann den Traum von Papi und Mami mit Kind träumen. Und dann haben sie dieses Kind, und alles ist noch schwerer geworden. Sie haben kaum eine Chance, sich und ihr Kind in eine gute Position zu bringen Und die sind schon in so einem Trott des Nichtstuns, die sind wie Pudding, den man an die Wand nageln will. Sie kriegen ihren Hintern nicht hoch. Das ist aber der Anfang von Depression, eine spezielle Art von Depression.

Das Bemühen ist oft da, aber sich da rauszureißen, das ist unheimlich schwer. Und das ist auch die Generation, die nicht mehr weiß, wie man fürs Kind einen Tee macht und wie man aus normalen Kartoffeln oder Mohrrüben einen Brei macht. Die kennt den nur im Gläschen. Also die Hausbesuche sind sehr wichtig, denn hier lege ich diese Basis, sag ich mal. Man muss sich stützen auf die Erfahrung, auf die Eindrücke, auf so empathische Fähigkeiten, die man hat, die man natürlich auch ein Stück weit erlernen kann, damit das Gegenüber sich ein bisschen öffnet. Aber besser ist schon, ich fühle wirklich was.

Ein wichtiger Punkt ist, dass ich Vertrauen herstelle. Wir können keine Statistik von unserer Arbeit vorweisen, aber von meinem Erfahrungswert her kann ich nur sagen, dass es gelingt. Dass sie sehr oft sich wieder melden, anrufen, wenn ein Problem da ist – z. B. wird die Wohnung gekündigte –, in die Sprechstunden kommen, um Rat bitten. Und es soll sich ja in die Zukunft auswirken, diese Kinder werden eines Tages vielleicht unsere Krankenschwestern und Altenpfleger sein.

Es gibt eine Menge Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen, kann man vielleicht noch sagen. Die Vietnamesen z. B., die ja auch sehr zurückgezogen leben, bringen ihre Kinder supergut durch die Schule, ermöglichen ihnen einen super Bildungsabschluss, mit viel Anstrengung. Es gibt eigentlich wenig Probleme, die Familien sind sehr freundlich und gesellschaftlich akzeptiert – jedenfalls hier, in den Altbundesländern. Die lernen einfach sehr viel, die Kinder, sie sprechen alle sehr gut Deutsch, und die Eltern, egal welche Bildung sie haben, kooperieren sehr gut mit den Schulen. Und trotzdem verlassen sie den Weg ihrer Tradition nicht. Also sie können das vereinbaren, irgendwie.

Die Türken haben damit Probleme, warum, weiß ich nicht. Sie haben ohne Frage viel Esskultur nach Berlin gebracht, tolle Supermärkte, tolle Lebensmittelläden; die letzten noch guten Metzger, sind glaube ich, auch türkisch. Das Fleisch sieht immer sehr frisch und appetitlich aus. Der Unterschied zwischen Türken und Vietnamesen ist aber, dass die Vietnamesen das bedienen könne, was von Deutschland an Anpassungsleistung gefordert wird. Also die Beherrschung der deutschen Sprache, den Bildungsabschluss, den emsigen Fleiß im Arbeitsleben. Und sie nehmen auch keine Transferleistungen in Anspruch. Und das können oder wollen die Türken irgendwie nicht.

Das Feld der Gewalt

Seit der Eurokrise und den Rettungsschirmen kommen übrigens vermehrt Spanier, Portugiesen und vor allem Griechen nach Deutschland. Familien, die auswandern.

Aber zurück zum gewöhnlichen Hausbesuch. Manchmal, das habe ich vergessen, geht es auch etwas ins Intimere, bei Partnerproblemen. Und dann haben wir ab und zu auch mit Gewalt gegen Kinder zu tun. Und das ist eben ein sehr schwieriges Feld, weil es um das Kindeswohl geht, hinter dem das Recht der Eltern zurückstehen muss. Schwierig auch, weil die Kinder noch nicht sprechen können und Auskunft geben, wo die blauen Flecken und Knochenbrüche herkommen.

Wir haben zwar einen gesellschaftlichen Konsens, dürfen nicht schlagen (Züchtigungsrecht der Eltern seit 1973 abgeschafft. Anm. G. G.), aber es gibt eben doch immer noch sehr viel Gewalt in der Gesellschaft. Wir müssen versuchen, ganz am Anfang dieser Gewaltspirale anzusetzen, dass also schon die Eltern zu einer gewaltfreien, verantwortungsvollen Erziehung bereit sind, und dazu gehört natürlich auch, dass man sie ökonomisch so sichert, dass sie nicht von vornherein ’unten‘ sind bzw. abrutschen müssen.

In Fällen, wo ein sexueller Missbrauch angenommen werden muss, ist es natürlich noch schwieriger.

Das Kleinkind hat bei uns einfach wenig Lobby. Kinderärzte sind die schlechtest bezahlten Ärzte, denn sie arbeiten mit ihren Händen und mit ihrem Instinkt und haben kaum Apparate, was ja dem Arzt das meiste Geld bringt. Oder der so wahnsinnig wichtige Grundschullehrer, der verdient viel weniger als sein Kollege in der Mittelstufe oder am Gymnasium. Das soll mir mal einer erklären!

Krippenplätze, Krippenplätze

Man versucht zwar, jetzt wieder mal … Krippenplätze, Krippenplätze … aber darüber redet man ja schon seit Jahren. Vorher sollten aber Erzieher qualifiziert ausgebildet werden, vor allem im Kleinkindbereich, sogar mit Hochschulstudium, wurde gesagt. Es wird aber im gesamten Bundesgebiet keine Erzieherin nach ihrem Hochschulabschluss bezahlt. Zu teuer.

Dafür hatte man jetzt die Idee, die ’Schlecker-Frauen‘ (die entlassenen Verkäuferinnen der in Konkurs gegangenen Drogeriekette Schlecker, Anm. G. G) zu Erzieherinnen für die Kindereinrichtungen umzuschulen. Das ist genau der Punkt, nichts gegen die Schlecker-Frauen, von denen einige sicher gut mit Kindern können, aber es kann ja nicht einfach jeder Erzieherin werden, eine Tüte Gummibärchen in die Mitte schmeißen, und schon läuft es.

Was wir brauchen, sind hoch motivierte, gut ausgebildete und gut bezahlte Kräfte. Einen Erzieherschlüssel maximal eins zu vier. Daran ist nicht im Traum zu denken. Und keiner fragt mal, was ist eigentlich das Bedürfnis des Kleinkindes? Also Frankreich – nur ein Beispiel von vielen – löst das Problem der öffentlichen Erziehung anders und wesentlich besser zum Vorteil der Kinder und der gesamten Gesellschaft.

Bei uns klappt es ja auch mit der Bildung nicht. Die Bildung ist hier in Deutschland ein Problem. Auch für deutsche Familien, die zwei bis drei Kinder haben und möchten, dass die einen guten Schulabschluss bekommen und vielleicht dann auch noch studieren. Das wird finanziell immer schwieriger, viel mehr als in den 60er und 70er Jahren. Das BaföG muss man heute ja zurückzahlen, damals gabs Stipendien. Heute braucht man Geld. Ich spreche da aus eigener Erfahrung.

Das fängt schon mit Nachhilfeleistungen an, die oft notwendig werden, denn wenn das Kind keinen Rückhalt hat, dann bekommt es auch keine Empfehlung für eine weiterführende Schule. Und wenn es dann Abitur hat, dann kommt die nächste Hürde, das Studium – zu dem kommen auch noch die Studienreformen, dieses total bekloppte System mit Bachelor und Master –, es muss alles schnell, schnell gehen, und dann wird es auch noch immer teurer. Allein schon die 350 Euro Rückmeldegebühren, würde Berlin nun auch noch Studiengebühren einführen wie andere Bundesländer, dann wären das schon 800 Euro.

Da fällt ja quasi bereits der ganze Mittelstand raus! Also man ist da schon sehr am Hecheln, sogar als Deutscher, mit Kindern, die einen relativ hohen Bildungsabschluss haben und studieren wollen. Und wenn es für die normale Mittelschicht schon schwierig ist, ihre Kinder studieren zu lassen, wie ist das dann erst für die Unterprivilegierten? Die Reichen, die lassen ihre Kinder auf Privatuniversitäten studieren oder im Ausland.

Ich denke, wenn so viele abgeschmettert werden oder sich gar nicht erst trauen, dann geht da ein Riss durch die ganze Gesellschaft, durch eine Gesellschaft, die genügend Geld hat für alles! Ich glaube, der Wille ist nur deshalb nicht da, weil man nicht teilen bzw. umverteilen möchte. So haben wir Leute, die auf hohem Niveau jammern – und dieses Niveau wird immer höher! Und wir haben Leute, denen es sehr schlecht geht, und die Politik schließt die Augen vor den Problemen und lässt die Menschen damit letztlich alleine.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.