Eine prächtige historische Wunderkammer

KNIFFE David Mitchell beherrscht das Erzählhandwerk virtuos: „Die tausend Herbste des Jacob de Zoet“

VON CRISTINA NORD

Wer das Rijksmuseum in Amsterdam besucht, wird von Pracht überwältigt. Auf den Ölgemälden sind mächtige Flotten zu sehen und stolze Bürger, die vor Palmen posieren, während im Hintergrund ein Sklave den Sonnenschirm hält und ein anderer Luft fächert. Die Stillleben zeigen Austern oder exotische Früchte, die Tischdecken schimmern seidig, die Teller sind aus Silber, die Gläser aus Kristall. In den Vitrinen finden sich Modelle von Handels- und Kriegsschiffen, mit Edelmetallen beschlagene Arkebusen und Musketen aus dem 17. Jahrhundert hängen an den Wänden, und eine Kanone steht auch herum.

Der Reichtum verdankt sich den Kolonien, vor allem einem Archipel, der heute Indonesien heißt und seinerzeit auf den Namen Java hörte. Die Handelskompagnie der Niederländer, die Verenigde Oost-Indische Compagnie, kurz VOC, beutete Menschen und Rohstoffe aus, wie es ihr gefiel, und ihre knapp 200-jährige Geschichte (die Kompagnie existierte von 1603 bis 1799) hat eine bemerkenswerte Fußnote. Edelmetalle, Gewürze, Tee, Tabak, Diener und Sklaven wurden nicht nur zwischen Java, Ceylon, Südafrika, der Karibik und Amsterdam hin und her verschifft, vielmehr trieben die Niederlande als einziges Land außer China Handel mit Japan.

Zu diesem Zweck existierte eine Sonderzone in der Bucht von Nagasaki, die künstlich aufgeschüttete Insel Dejima. Der radikalen Abschottung Japans zugrunde lag die Furcht vor christlicher Missionierung; christliche Praktiken und Schriften waren verboten, einmal im Jahr wurde das Ritual des Fumie, des Bild-Tretens, begangen, bei dem jeder Untertan des Shoguns Jesusdarstellungen oder Marienbilder mit Füßen zu treten hatte. Bei Todesstrafe war es den Japanern untersagt, ihr Land zu verlassen, und kein Ausländer durfte es betreten, außer er siedelte auf Dejima und konnte eine Sondergenehmigung erwirken, um an Land zu gehen.

Diese außergewöhnliche Situation dient dem britischen Schriftsteller David Mitchell als Folie für seinen historischen Roman „Die tausend Herbste des Jacob de Zoet“, der in den Jahren von 1799 bis 1817 spielt, zu einer Zeit, als die VOC bereits in Auflösung begriffen ist. Das koloniale Schachmatt aus weißen Herren und dunkelhäutigen Untertanen verschiebt sich bei Mitchell hin zu einem Patt, denn die Überheblichkeit der Niederländer prallt auf die Überheblichkeit der Japaner; Unverständnis, Ablehnung und die Lust an raffiniert ausgetragener Feindseligkeit regieren auf beiden Seiten, hinzu kommt das unverhohlene Streben nach Profit, das Japaner wie Niederländer antreibt, und nur selten ist so etwas wie aufrichtiges Interesse am jeweils anderen zu spüren.

Einer der wenigen Neugierigen ist der Held des Romans, ein junger Mann namens Jacob de Zoet, Neffe eines Pastors, gebürtiger Zeeländer mit auffällig rotem Haar. Er ist Buchhalter und die ehrliche Haut unter lauter korrupten Landsleuten, und er ist auch derjenige in „Die tausend Herbste des Jacob de Zoet“, der sich den Vorschriften widersetzt, die japanische Sprache studiert und sich in eine Japanerin verliebt.

Währenddessen wird im fernen Europa die Welt neu geordnet. Doch die Nachrichten über die Folgen der Französischen Revolution oder über die des vierten holländisch-britischen Seekriegs gelangen nur in verzerrter und verspäteter Form nach Dejima. Dass alle Menschen Brüder seien, daran glaubt unter den Männern der VOC ohnehin niemand. Einmal etwa prügeln zwei in der Hierarchie weit unten stehende Niederländer einen Sklaven fast zu Tode. Als der Faktor Vorstenbosch über die beiden zu Gericht sitzt, fällt er den Freispruch im Nu. Sein Stellvertreter räsoniert: „‚Im Tierreich‘, sagt van Cleef, ‚werden die Unterlegenen von denen gefressen, die von der Natur besser begünstigt wurden. Deswegen ist die Sklaverei geradezu barmherzig: Die niederen Rassen dürfen am Leben bleiben, aber sie müssen dafür eben arbeiten.‘“

Mitchell beherrscht das Erzählhandwerk virtuos. Perspektiven wechseln in flüssiger Folge, auch wenn Jacob de Zoet im Mittelpunkt steht, wird vieles aus der Sicht der übrigen Figuren vorgetragen. Wie man Spannung aufbaut und hält, indem man die Abfuhr kunstvoll verzögert, weiß Mitchel genau; oft löst sich eine drängende Frage – wird de Zoet befördert? Gelingt der Krankenschwester Aibagawa Orito die Flucht aus einem Schrein, in dem sie gefangen gehalten wird? Hat der Übersetzer Ogawa Uzaemon so viel Glück, dass er besagten Schrein stürmen kann? – erst zu einem Zeitpunkt, zu dem man es schon fast nicht mehr erwartet.

Gleich im ersten Kapitel stellt der Autor dieses besondere Geschick zur Schau. Die Konkubine von Shiroyama, dem Statthalter von Nagasaki, liegt in den Wehen, doch der Fötus hat sich im Mutterleib verdreht, nur sein Arm hat sich in den Geburtskanal geschoben. Das Kind ist wahrscheinlich schon tot, das Leben der Mutter in höchster Gefahr. Aibagawa Orito, de Zoets späteres Liebesobjekt, hilft bei der Geburt. Wie Mitchell hier die medizinischen Details beschreibt, wie er die Aussichtslosigkeit der Situation inszeniert und zugleich die Figuren dagegen ankämpfen lässt, sorgt dafür, dass man wie unter Hochdruck in den Roman hineingezogen wird.

„Die tausend Herbste des Jacob de Zoet“ ist reich an solchen spannungsgeladenen, außerordentlichen Begebenheiten, an derben und an feinen Pointen herrscht kein Mangel, die Figuren erzählen sich Dschungelpossen und grausige Märchen wie das vom singenden Schädel, in dem ein Mordopfer sich postum an seinem Mörder rächt. Hinzu kommen die Schauergeschichte rund um die in den Schrein verschleppte Krankenschwester, ein verhindertes Samurai-Spektakel und eine veritable, wenn auch vor ihrem Höhepunkt abgebrochene Seeschlacht. Und im Untergrund des Romans fließt ein Strom aus zeitgenössischer Ideengeschichte, der die Neuerungen auf dem Feld der Medizin ebenso umfasst wie Adam Smith' ökonomische Theorien.

An einer Stelle heißt es: „‚Ein Mensch‘, fährt Marinus fort“ – der Arzt der Niederländer und ein Freund der Aufklärung –, „‚der vor zweihundert Jahren eingeschlafen und erst heute Morgen wieder aufgewacht wäre, würde wohl feststellen, dass die Welt sich im Grunde nicht geändert hat. Schiffe sind immer noch aus Holz, noch immer grassieren Krankheiten. Niemand kann sich schneller fortbewegen als ein galoppierendes Pferd, und niemand kann einen anderen Menschen außerhalb der Sichtweite töten. Würde derselbe Mensch jedoch heute Nacht einschlafen und erst in hundert, achtzig oder sogar schon in sechzig Jahren wieder aufwachen, würde er die Welt infolge der vielen, durch die Wissenschaft hervorgebrachten Veränderungen nicht wiedererkennen.‘“

In seiner Pracht steht Mitchells Roman den Exponaten im Amsterdamer Rijksmuseum in nichts nach. Indem der Autor alle Tricks und Kniffe des Erzählens beherrscht, lässt er den Leser durch die gut 700 Seiten hindurchgleiten wie ein Handelsschiff, das von günstigen Winden über die Weltmeere getrieben wird. Trotzdem wünscht man sich bisweilen ein wenig mehr Widerstand, einen Sturm oder wenigstens ein paar hohe Wellen, einen Riss in der Virtuosität. Wer weiß – vielleicht wäre der Roman dann noch viel mehr als die kunstvoll ausstaffierte Wunderkammer, die er ist.

David Mitchell: „Die tausend Herbste des Jacob de Zoet“. Aus dem Englischen von Volker Oldenburg, Rowohlt, Reinbek 2012, 720 Seiten, 19,95 Euro