Ein sehr bewegliches Wesen

NEUE FRAU Offenheit, Spontaneität und Neugier zeichnete die Fotografin Lotte Jacobi aus. Das Käthe-Kollwitz-Museum in Köln zeigt an die hundert Werke der Foto-Pionierin

Unabdingbar für den Arbeitsstil von Lotte Jacobi war die persönliche Beziehung zu den Porträtierten. Der Bogen spannt sich von Karl Kraus über Emil Jannings zu Carl Zuckmayer, von Ernst Deutsch über Karl Valentin und Lisl Karlstadt zu Egon Erwin Kisch, John Heartfield, Peter Lorre und George Grosz

VON URSULA WÖLL

In der Zeit der Weimarer Republik wurde es auch im Kleinbürgertum üblich, sich porträtieren zu lassen. Laut Branchenbuch existierten 1929 in Berlin an die 400 Fotoateliers. Man übernahm das bürgerliche Ideal der Repräsentation, so dass die Fotos kaum Individualität verrieten und die Fächerpalme zum unverzichtbaren Requisit der Studios wurde.

Die 1896 geborene Fotografin Lotte Jacobi unterwarf sich diesen Konventionen nicht. Ihre Porträts aus den späten 1920er Jahre zeigen eine neue Intensität des Ausdrucks, sie fangen situative Stimmungen ein und arbeiten einfühlsam wesentliche Charakterzüge heraus. Das entsprach ganz ihrem eigenen beweglichen Wesen, war aber auch Ausdruck eines sich verbreitenden neuen, vom Korsett befreiten Lebensgefühls der Epoche, für das die Künstlerin als Erste eine angemessene Bildersprache fand.

Symbolischer Ort der Selbstbefragung

Fast programmatisch buchstabiert sie diese 1929 auf einem Selbstporträt durch. Ungemein zupackend, aber auch skeptisch und prüfend blickt sie in den Spiegel, den symbolischen Ort der Selbstbefragung. Die Lichtregie betont Kopf und Hände mit dem auslösenden Gummiball. Wie eine Nabelschnur führt das Kabel zur großen Atelier-Plattenkamera, die gleichberechtigt ins Bild gesetzt ist und durch das Objektiv den Blick verdoppelt. Die Aufnahme demonstriert Lotte Jacobis Selbstverständnis als Künstlerin, aber auch ihre Identifizierung mit einem Beruf als Facette weiblicher Selbstverwirklichung. So zeigen ihre Züge eine leichte Gehetztheit, die dem hektischen Zeitgeist und der großen Konkurrenz in ihrem Metier geschuldet ist. Dieses aussagekräftige Selbstporträt eröffnet, stark vergrößert, die überfällige Ausstellung „lotte jacobi – photographien“ im Kölner Käthe-Kollwitz-Museum.

Erstmals seit 15 Jahren wieder sind an die hundert Werke der Berliner Zeit, darunter Fotos ihrer Reise in die UdSSR 1932, sowie der New Yorker Zeit nach ihrer Emigration 1935 zu sehen. Kuratorinnen sind wiederum Marion Beckers und Elisabeth Moortgat vom Berliner Verborgenen Museum, die beide die 1990 in New Hampshire verstorbene Künstlerin noch persönlich kennenlernten. Als Aufmacher wählten sie das berühmte Porträt von Lotte Lenya mit Bubikopf und Zigarette, aufgenommen 1928 während der Proben zur „Dreigroschenoper“ im Theater am Schiffbauer Damm. Es verkörpert den neuen Frauentypus auf andere Weise. Die Hell-Dunkel-Töne prallen hart aufeinander, das stark geschminkte Gesicht blickt uns selbstbewusst und frontal in die Augen.

Lotte Jacobi entstammte einer bildungsbürgerlichen Fotografendynastie, wuchs also in ihr Handwerk hinein. Trotzdem studierte sie ihr Fach zwei Jahre lang in München, um ihren eigenen Stil zu finden und etwas von der „Welt“ zu sehen. In Berlin richtete sie ihr Atelier in Charlottenburg nahe des Kurfürstendamms ein. Damit traf sie eine Vorentscheidung über ihre Kundschaft, denn dort wohnte damals außer dem liberalen Bürgertum auch die kulturelle Avantgarde. Künstler aller Sparten trafen sich im Romanischen Café, in dem auch Lotte Jacobi verkehrte und mit ihrer Offenheit, Spontaneität und Neugier, ihrem Faible für Tanz und Theater bald Freunde und Porträtaufträge gewann. Die persönliche Beziehung zu den Porträtierten war unabdingbar für ihren Arbeitsstil: „Mein Stil ist der Stil der Menschen, die ich fotografiere“, erläuterte sie ihr Vorgehen.

Das Panorama der Porträtierten aus Tanz, Theater, Literatur, Bildender Kunst und Politik zeigt, wie reich die Weimarer Republik an schöpferischen Persönlichkeiten war. Der Bogen spannt sich von Karl Kraus über Emil Jannings zu Carl Zuckmayer, von Ernst Deutsch über Karl Valentin und Lisl Karlstadt zu Egon Erwin Kisch und John Heartfield, von Peter Lorre über Fritz Kortner zu George Grosz. Eine Kulturgeschichte in Bildern, die trotz allen schöpferischen Reichtums bald ihr abruptes Ende fand.

Die jüdische Künstlerin erhielt Berufsverbot und emigrierte 1935 mit Sohn und Mutter in die USA, wo Schwester Ruth bereits ein Studio aufbaute. In Manhattan fand sie viele ihrer ebenfalls emigrierten Berliner Freunde und Kunden wieder, doch bedurfte es großer Zähigkeit, mit dem American way of life klarzukommen. Es entstanden sehr persönliche Porträts von Thomas Mann und Albert Einstein.

Nur sehr zögernd wurde der unkonventionelle Stil der Emigrantin von Zeitschriften wie Time oder Life anerkannt, die amerikanischen Wünsche waren auf Status und Glamour gepolt. Auch wenn sie aus Überlebensgründen Kompromisse eingehen musste, hielt sie prinzipiell an ihrer Art der Fotokunst fest. Selbst Eleonore Roosevelt, die nur 20 Minuten für die Sitzung hatte, blickt uns mit natürlichem Lachen und gestikulierenden Händen an. Man fühlt die Sympathie der Fotografin für die Roosevelts, mit deren Politik des New Deal sie sich identifizierte. Erst in den 1950er Jahren fand die Künstlerin in den Staaten breite Anerkennung, ironischerweise zunächst über ihre „Photogenics“, Aufnahmen ohne Kamera, die mit ihren abstrakten Formen im damaligen Trend zur abstrakten Kunst lagen.

Nach dem Tod ihres zweiten Ehemanns Erich Reiss zog sie sich 1955 aufs Land zurück, wo sie gärtnerte, sich regional für die Demokratische Partei engagierte und gegen Vietnam und Atomwaffen demonstrierte. Sie unterrichtete und unterstützte junge KollegInnen und focht ausdauernd für die Anerkennung der Fotografie als gleichberechtigte Kunstgattung. Zuletzt im Altersheim lebend, starb die Künstlerin 1990 mit 93 Jahren.

■ Bis 25. November, Käthe-Kollwitz-Museum, Köln, Katalog, Wienand, 16,50 Euro