Ein Nachgeschmack von Spektakel

VORTRAG Der französische Philosoph Jacques Rancière sprach in Santiago de Chile. Dort mobilisierte er die Studenten

2011 erlebte Chile über Monate hinweg massive und ausdauernde Studentenproteste gegen das weitgehend privatisierte Bildungssystem und für eine Änderung der chilenischen Verfassung – beides Erbe der Diktatur Pinochets. Diese Erfahrung einer sich neu formierenden widerständigen Kultur hat das Land nachhaltig geprägt.

Ein Jahr später lud nun die als progressiv bekannte Universidad Academia de Humanismo Cristiano den französischen Philosophen und Althusser-Schüler Jacques Rancière zu einem öffentlichen Vortrag unter dem Titel „Ist die Zeit der Emanzipation vorbei?“ ins Centro Cultural Gabriela Mistral (GAM) im Zentrum Santiagos ein. Der Eintritt war frei. Platzkarten sollten eine Stunde im Voraus verteilt werden. Und so tauchte schon seit Tagen immer wieder und in unterschiedlichsten Zusammenhängen Rancière in Gesprächen auf. (Vom Konzert der kanadischen Sängerin Leslie Feist vier Tage zuvor sprach hingegen niemand.) Am Dienstagvormittag waren dann die 280 Sitzplätze zu Rancières Vortrag innerhalb weniger Minuten verteilt und im Foyer des kürzlich wiedereröffneten Kulturzentrums sammelte sich eine empörte, studentische Menge, die Einlass forderte.

Trotzdem begann im Saal, wie vorgesehen, der französische Philosoph mehr oder weniger stoisch über die Gleichheit der Intelligenz (Jean Joseph Jacotot) und den Begriff der Emanzipation als eine Kritik der Idee einer linearen Zeit zu referieren. Nach 20 Minuten purzelten plötzlich die ersten Studenten von außen durch die Fluchttür, um sogleich auf der Bühne Platz zu nehmen. Rancière ließ sich davon nicht beeindrucken und fuhr fort.

Doch als wenig später die Polizei vor dem Gebäude eintraf, um gegen die aufgebrachte Menge vorzugehen, baten die Veranstalter angesichts der heiklen Situation und sichtlich nervös um eine Unterbrechung des Vortrags. Schließlich wurden Lautsprecher im Foyer aufgestellt, um die Simultanübersetzung nach draußen zu übertragen. Die protestierenden Studenten hatten sich durchgesetzt. Die Veranstaltung konnte weitergehen.

„Emanzipation ist eine Form, eine Welt der Ungleichheiten zu leben, statt sie im Spektakel zu vergessen.“ Damit schloss Jacques Rancière seinen Vortrag. Ein leichter Nachgeschmack von Spektakel jedoch blieb.

EVA-CHRISTINA MEIER