Ein wichtiger Schritt in die Zukunft

PERFORMANCE Die ungewöhnlichen Theaterformate der ungarischen Regisseurin Edit Kaldor geben den Gedanken Raum. Im HAU 3 lehrt sie mit „C’est du chinois“ Mandarin für Anfänger. Aber nicht nur das

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Wenn man Vokabeln lernt, ist das Hirn wach. Worte laut sprechen und ihre Bedeutung sehen, hilft dem Merken und der Erinnerung. Lesen geht schneller als schreiben und wenn man mitliest, wie einer schreibt, eilen die Gedanken voraus. Wer versucht, sich den eigenen Tod vorzustellen, antizipiert etwas, das in der Zukunft sicher geschehen wird. Solcherart sind die Aktivitäten, aus denen die Regisseurin Edit Kaldor ihre Stücke baut.

Sie ist behutsam und genau. Ihre Ästhetik will nicht überwältigen, sondern eine Tür öffnen und einen an die Hand nehmen. In „C’est du chinois“, dem Stück, das heute und morgen im HAU 3 läuft, führt die Reise zu einer chinesischen Familie, die irgendwo in Europa Fuß gefasst hat. Vor allem aber führt sie in den Zustand des In-der-Fremde-Angekommen-Seins. „Das ist ein interessanter Zustand“, sagt Edit Kaldor, „wenn man erst wenige Wörter versteht und die Lücken dazwischen mit der Imagination zu schließen versucht.“ Einzelne Worte erfahren dann eine emotionale Aufladung.

Edit Kaldor weiß, wovon sie spricht. Sie hat in ihrem Leben oft in einem fremden Land neu angefangen und sich erst langsam in der Sprache niedergelassen. Und sie hat sich angefreundet mit diesen Situationen, in denen das Tagträumen und halb Verstehen eine eigene Verbindung eingehen. In Budapest geboren, nahm ihre Mutter sie als Teenager 1981 mit in die USA, mit sechs Monaten Zwischenstation in einem österreichischen Flüchtlingslager. Mit 16 Jahren ging sie allein nach New York. Zum Theater hat sie erst mit Anfang dreißig gefunden, in Amsterdam, wo sie seit mehr als zehn Jahren lebt.

Gerade angekommen

Schon eines ihrer ersten Stücke, „Press Escape“ (2002), tauchte in die Gedankenwelt einer jungen Frau, die sich dort, wo sie gerade angekommen ist, eine neue Existenz aufbauen muss. Mit diesem Stück erhielt Kaldor viele internationale Einladungen, ebenso mit „C’est du chinois“ (von 2010), das bisher in zehn europäischen Ländern und Brasilien aufgeführt wurde und demnächst in New York und Kanada.

„Tofu“ und „Kung-Fu“, da lacht man noch erleichtert über die wiedererkennbaren Worte zu Beginn der Performance „C’est du chinois“, in der die chinesischen Schauspieler dem Zuschauer zunächst ein paar Worte Mandarin beibringen. „This is an important step for your future“ ist einer der wenigen englischen Sätze zu Beginn. Denn, lernt der Zuschauer die Begriffe auf Mandarin nicht, wird er kaum etwas von der Geschichte verstehen, die sich allmählich zwischen den Darstellern entspinnt und von den Charakteren in der Familie und ihrem Handel erzählt. Große Plastiktaschen voller Requisiten unterstützen den Sprachkurs und den Warenverkauf.

Chinesische Communities – in Amsterdam und New York hat Edit Kaldor sie kennen gelernt. Dass ihr Anderssein so unauffällig, „fast unsichtbar“, erscheint, gerade das hat sie interessiert. „Sie verhalten sich selbstgenügsam, leise, freundlich, wollen keinen Ärger machen.“ Diesem Zurückhaltenden aber wohnt jenseits dessen, was wir als Expressivität erkennen, eine eigene Qualität des Ausdrucks inne. Um den geht es in Kaldors Arbeit auch.

In „Press Escape“ las der Zuschauer auf einer Leinwand mit, was eine junge Frau in ihren Computer schrieb. Das war das ganze Setting, dennoch vergingen die anderthalb Stunden schnell, nicht zuletzt, weil die Mitleser selbst an halb geschriebenen Sätzen formulierten. „Press Escape“ war auch eine Performance über Isolation – und woran die Gedanken dann arbeiten. Die junge Frau muss Formulare von Einwanderungsbehörden ausfüllen, ein Unternehmen gründen als Legitimation für ihren Aufenthalt. Während sie schreibt, verändern sich die Adressaten ihrer Texte, einzelne Wörter und Sätze werden korrigiert, schließlich gelöscht. Das sich neu erfinden, ist eben doch nicht so einfach. Selbst wenn der Computer meldet, Memory-Speicher voll, lässt sich die Vergangenheit nicht wegwerfen.

Für Annemie Vanackere, die neue Intendantin des HAU, gehört Edit Kaldor zu den Künstlern, die sie regelmäßig in Berlin vorstellen will. Anfang November war schon deren Stück „One Hour“ (von 2012) im HAU 3 zu sehen. Mit Fragen und einfachen Sätzen versucht dieses Stück, sich der Vorstellung des Sterbens zu nähern. Die Zuschauer, die sich nach einer Einleitung auf Matratzen ausstrecken können, sehen über sich schwache Projektionen von Körperbildern, Sternenhimmeln, gleitenden Räumen. Sie hören ein Protokoll über die physiologischen Vorgänge des Sterbens, das den Tod als Ereignis mit einem Bild des Übergangs überblendet, einem allmählichen Wechsel der Zustände.

„One Hour“ ist keine angsterzeugende Performance und auch eher, wie Kaldor selbst sagt, ein erster Schritt der Beschäftigung mit dem Tod, „a first hello to the idea“. Schließlich gehe es nur um eine Stunde, die man mit diesen Gedanken verbringt. Aber Behutsamkeit und Genauigkeit zeichnen auch diese Arbeit aus.

■ „C’est du chinois“, Sa+So, HAU 3, Tempelhofer Ufer 10, 20 Uhr