„Mike Kelley“-Ausstellung: Außerlehrplanmäßige Kunst

Das Stedelijk Museum in Amsterdam hat einen neuen Erweiterungsbau. Eröffnet wird er mit einer großen „Mike-Kelley“-Retrospektive.

Installation aus der am Wochenenden eröffneten „Mike Kelley“-Retrospektive. Bild: Stedelijk Museum

Er hat noch an der Konzeption der Ausstellung mitgearbeitet, die Gijs van Tuyl während seiner Zeit als Direktor des Stedelijk Museum angeregt hatte und deren Planung fünf Jahre zurückreicht. Natürlich sollte er bei der Eröffnung anwesend sein, aber dann erfuhr die Kunstwelt Anfang dieses Jahres zu ihren großen Schock, dass Mike Kelley sich das Leben genommen hatte.

Die Ausstellung ist nun, wie Gijs van Tuyls Nachfolgerin am Stedelijk, Ann Goldstein, zur Eröffnung sagte, zur „Retrospektive im wahrsten Sinne des Wortes“ geworden – zum Rückblick auf das nachgelassene Werk. Mit fast 200 Arbeiten aus allen Phasen der 35 Jahre seines Schaffens ist die Schau die bislang umfassendste Präsentation von Mike Kelleys Oevre.

Während des Presserundgangs begegnete man immer wieder Paul Schimmel, der gemeinsam mit Ann Goldstein Kurator am Museum of Contemporary Art (MoCA) in Los Angeles war. Mit seiner ersten MoCA-Ausstellung, „Helter Skelter. L. A. Art in the 1990s“ kam die Karriere von Mike Kelley wie auch vor allem die von Paul McCarthy wirklich ins Rollen. Ob sich Schimmel bei der Wiederbegegnung mit dem Werk des Künstlers an dessen damaligen Dekorationsvorschlag für ein von Frank Gehry entworfenes Büro einer Werbeagentur, erinnerte? Kelleys rüdes „If assholes could fly – this place would be an airport“ dürfte ihm heute aktueller erscheinen denn je. Schimmel schmiss diesen Sommer im MoCA hin. Seine Vorstellungen von Museumsarbeit deckten sich nicht mit denen des New Yorker Galeristen Jeffrey Deitch, dem seit 2010 amtierenden, zu sehr in Business Art bewanderten Direktor des MoCA.

läuft bis zum 1. April 2013, Stedelijk Museum Amsterdam. Der Katalog erscheint im Januar.

Punk als Fahrstuhlmusik

Sicher erinnerte sich Paul Schimmel aber an das schnell hergerichtete Lagerhaus und die rohe, improvisierte Ausstellungsarchitektur von „Helter Skelter“, zu der die supercleanen Räume des erst im September eröffneten Neubaus des Stedelijk in denkbar größtem Kontrast stehen. Im Innern der schicken weißen Kunststoffbadewanne, die Benthem Crouwel Architects neben den Altbau gerückt haben, wird Mike Kelley unvermeidbarerweise sehr museal. Das zeigt sich zunächst auf der langen Rolltreppenfahrt vom Unter- in das Obergeschoss. Diesen Weg mit Noise-Music aus Kelleys Band-Arbeit mit Destroy all Monsters und The Poetics zu beschallen, erweist sich als kein besonders guter Einfall. In der Rolltreppenröhre wirkt Kelleys Proto-Punkrock letztlich wie eine Spezialanfertigung von Fahrstuhlmusik. Auch das Zusammenspiel der perfekten weißen Wand und der ebenso perfekten, goldglitzernden oder bonbonbunten Materialschlachten der Werkgruppe „Memory Ware“ aus den 2000er-Jahren entfaltet in den Edelgalerien erst einmal nur Kunstmessencharme.

Zwar scheinen unter der harten Oberfläche all der in Pappmaché inkrustierten Goldbroschen, Perlenschnüren, Muscheln, glitzernden Nadeln und Goldknöpfen von „SS Cuttlebone“ (2000) noch immer die großartigen Haufen durch, zu denen Mike Kelley in der 1980er-Jahren Teddybären und andere Plüschtiere zusammengebunden und aufgetürmt hatte, in der Serie „Half a Man“, mit der er wenig später bekannt wurde.

„Memory Ware“, Erinnerungsgut also, sind die einen so gut wie die anderen, die Plüschtiere so gut wie die falschen Perlen. Gerne möchte man die schwer beladenen Leinwände als Fortsetzung der „Lumpenprole“ sehen, allein man ist sich nicht sicher. In dieser Installation aus dem Anfang der 1990er-Jahre hatte Kelley einen großen Strickteppich über Objekte geworfen, die auf dem Boden lagen und die nun als zwar dicke oder weniger dicke Beulen sichtbar, aber nicht identifizierbar waren. „Lumpenprole“ war ein starkes, allein schon weil raumfüllendes und dabei doch ganz einfach hingeworfenes Statement. Der Bezug auf Karl Marx besaß Witz. Denn ließ sich in den merkwürdigen Ausbuchtungen nicht die, wie man heute sagt, Unterschicht imaginieren, die Marx als Stolperstein und Hindernis auf dem Weg in die klassenbewusste Moderne sah? Oder ganz einfach der Kinderkram, der die großen Entwürfe ja bekanntlich immer stört?

Die Kunst des Verdrängten

Auch wenn sich im Stedelijk erneut zeigt, wie geradezu schockierend materialbesessen und vielseitig Mike Kelley gearbeitet hat, mit Performance, Video, Fotografie, Installation und Skulptur, mit Film, Musik, Zeichnung unter Einbezug vorgefertigter Industrie- oder Handwerkserzeugnissen; wie thematisch weit gespannt er seine Werkkomplexe anlegte: Im Grunde genommen, so scheint es im Ausstellungsrundgang, handeln sie alle von just diesem Kinderkram. Vom Verdrängten, dem unter den Teppich Gekehrten, den Kindersorgen und Kinderängsten, die die Gewalt und die Nötigungen der Erziehung auslösen – beim jungen Künstler auch die strikten Avantgarden der 1960er- und 1970er-Jahre.

Politisch völlig zu Recht war Mike Kelleys großes, alles überformende Thema der „Educational Complex“, den er künstlerisch in seinen „Extracurricular Activity Projektive Reconstructions“ in Erfahrung brachte. Erstmals skizzierte er ihn 1995 in einem weißen Architekturmodell, das einem in Amsterdam wie das neue Jerusalem entgegenstrahlt, aber nur die Schulen versammelt, die Kelley sich erinnerte besucht zu haben. Die außerlehrplanmäßigen Aktivitäten verarbeitete er zwar in einer Werkreihe eindrücklicher, böser Videoinstallationen aus den Jahren 2000–2011, darunter fallen aber auch die gezeichneten Kothaufen, seine Porno- und Kitschanleihen, die unsinnigen performativen Versuchsanordnungen, die Agitprop-Plakate und Filzteppiche, die er über die Jahre produziert hat.

Am Ende meint man dann in der frei im Raum stehenden Skyline aus aneinandergefügten monochrom farbigen Holzrechtecken das Resümee seiner Auseinandersetzung mit dem „Educational Complex“ zu erkennen: Hinter der modernistischen Rasterfassade hängen hochkant Monitore, auf denen ebenfalls monochrome Farbfelder flimmern, unterbrochen von Videoclips, die Mike Kelley bei Youtube fand und die Kinder in vermeintlich komischen, tatsächlich aber traumatischen Situationen zeigen: gehänselt, beschämt, erst aufs Glatteis geführt und dann ausgelacht, ja verhöhnt.

Diese Clips sind unheimlich, und unheimlich ist, wie schnell sie verschwinden, hinter der Kunst der Abstraktion, und noch unheimlicher ist, dass man meinte, jeden Moment in einem der Clips schon den Schul-Amokläufer erkennen zu müssen.

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