Neun Finger sind genug

Dass man für sachgerechte Darbietungen auf dem Klavier nicht unbedingt ein Zehnfingersystem benötigt, hat sich in der Geschichte des Instruments des Öfteren gezeigt. Prominentestes Beispiel ist der Pianist Paul Wittgenstein. Der ältere Bruder des Philosophen Ludwig Wittgenstein ließ sich trotz des Verlusts seines rechten Arms im Ersten Weltkrieg nicht von einer Solistenlaufbahn abbringen. Zeitgenössische Komponisten schrieben in seinem Auftrag Stücke für ihn, Maurice Ravel widmete ihm gar ein ganzes Klavierkonzert. Da der Virtuose das Werk aber ganz anders interpretierte, als es von Ravel gedacht war, ging man am Ende unversöhnlich auseinander.

Weniger dramatisch, dafür ähnlich hartnäckig ist der Fall des Berliner Pianisten Nils Frahm. Beim Sturz aus seinem Hochbett – ja, diese der Effizienz geschuldete Raumgestaltungsmaßnahme kann körpergefährlich sein – brach er sich den Daumen der linken Hand, bekam vier Schrauben eingedreht und einen Gips verpasst. Der Arzt untersagte ihm jeglichen Kontakt mit den Tasten, was Frahm allerdings nicht davon abhielt, seine funktionsfähigen neun Finger einzusetzen, um ein komplettes Album mit – Symmetrie muss sein – neun Miniaturen einzuspielen. Den Daumen hat er im Titel „Screws“ berücksichtigt.

Von angezogener Mechanik oder sonstiger rhythmischer Starre, die man mit Schrauben assoziiert, ist auf der Platte nichts zu merken. Schlicht, klar und zögernd melancholisch klingen diese mal gospelartigen, mal zart suchenden, mal diskret mit dem Kitsch flirtenden „Lieder“, wie Frahm sie nennt. Pop-, Klassik- und gelegentliche Jazzeinflüsse vermischen sich zu einer kontemplativen halben Stunde mit viel Raum für die einzelnen Töne, wobei man nicht sagen kann, dass man der Aufnahme die genaue Zahl der beteiligten Finger anhören würde. Nur manchmal hört man das Klackern des gegen die Klaviatur stoßenden Gipses und wird so an die erschwerten Bedingungen erinnert, unter denen diese wortlosen Songs entstanden.

Nachdem Frahm die Platte zu seinem 30. Geburtstag im September zunächst – als Geschenk für seine Fans – auf seiner Website gratis zum Download angeboten hatte, gibt es jetzt pünktlich zur Weihnachtszeit die CD-Version für Objektnostalgiker. Eine sinnvolle Entscheidung. Ob es langfristig gesehen ebenfalls eine vernünftige Entscheidung war, den ärztlichen Rat zu ignorieren, wird man dann eventuell ab der nächsten Platte hören können. TIM CASPAR BOEHME

■ Nils Frahm: „Screws“ (Erased Tapes/Indigo)