Kolumne Bestellen und versenden: Zwischen Ich und Appell

Über Narzissmus und die Kritik daran. Mit Mario Balotelli, Political Correctness, Theaterautoren, dem Mainstream-Psychologen Hans-Joachim Maaz und der Piratenpartei.

Schau mich an: Narziss-Brunnen im Garten des Bayerischen Nationalmuseums in München. Bild: dpa

Wäre da nicht der zum antirassistischen Monument erstarrte Mario Balotelli gewesen, man hätte im Epilog zur Fußball-EM über andere, weniger monströse Gesten diskutieren können. Während der Übertragungen sah man, wie die Spieler nach jeder Torszene einen Blick auf den großen Stadionmonitor warfen, um zu kontrollieren, ob und wie sie massenmedial zu sehen sind. Nach Schlusspfiff verwandelte sich der selbstverliebte Narziss plötzlich wie ferngesteuert in einen selbstlosen Teamgeist, der im Interview die auf sich selbst gerichtete Libido verleugnete: „Mein Tor ist nicht so wichtig, es geht um den Erfolg der Mannschaft!“, war dann als Tenor zu hören.

Geradezu emblematisch wurde uns in diesen Momenten das gespaltene Subjekt der Gegenwart vorgeführt. Blicke und Worte sendeten unterschiedliche Botschaften, weil der Fußballstar wie der Rest der Menschen hin und her gerissen ist zwischen Narzissmus und „Flexibilismus“ (D. Diederichsen), zwischen dem Appell ganz authentisch er selbst zu sein und dem Aufruf, sich den Umweltbedingungen anzupassen, beziehungsweise im Falle des Nationalspielers: sich flexibel und uneitel in die taktischen Vorgaben und „flachen Hierarchien“ einzufügen.

Während das Flexibilisierungsthema wissenschaftliche Reader, Feuilletons und parteipolitische Deklarationen füllt, wird die Narzissmusdiagnose gemeinhin von Anti-68ern und anderen Über-Ich-Nostalgikern gestellt. „Narzissmus“ dient als Waffe der Reaktion dazu, Bemühungen um Emanzipation und Selbstbestimmung zu denunzieren und kreidet gesellschaftliche Verwerfungen einem maßlosen „Ich-Kult“ an.

Durchaus heikel ist deswegen der Versuch einer Narzissmuskritik von links. Die österreichischen Autoren Matthias Dusini und Thomas Edlinger erkennen in ihrem gerade erschienenen Buch „In Anführungszeichen. Glanz und Elend der Political Correctness“ einen „narzisstischen Absolutismus“. Dieser erkläre „das grandiose Selbst zum Ideal“. Obwohl sie die dröge Anti-PC-Tabubrecherei ablehnen, entdecken Dusini/Edlinger in PC eine narzisstische Moral. Denn wer alles korrekt zu machen versuche, wolle ein vollkommenes Ich-Ideal leben – leide aber nur am eigenen Ungenügen.

Noch unangenehmer als den Narzissmus finden die Autoren jedoch die Narzissmusverleugnung im Namen von PC, wie sie angeblich an den Kunstakademien beigebracht werde. Ihre These: „Die meiste Anerkennung erhält, wer seinen autonomiegläubigen Narzissmus aus den Kindertagen am besten verbirgt. Die Demontage des Künstlersubjekts und das Hinterfragen von Unmittelbarkeit sind der Schwerpunkt der künstlerischen Ausbildung.“ Strukturell gesehen wäre der Kunststudent demnach in der gleichen Lage wie der Nationalspieler nach Schlusspfiff vor den Mikrofonen: Er muss sein Ego wegschmeißen.

Zu anderen Ergebnissen kommt der schweizerische Kritiker Tobi Müller bei der Betrachtung des Theaterbetriebs. In seiner Rede zur Eröffnung der Berliner Autorentheatertage kritisierte er vor einigen Wochen die „Selbstbespiegelung“ und den auch in den Theaterbetrieb vordringenden „Befehl zum narzisstischen Ich-selbst-Sein“. Mit Schrecken beobachtet Müller „die Rückkehr eines authentizistischen, kunstfernen und im Kern narzisstischen Darstellerbegriffs“. Doch plädiert er deswegen nicht für die totale Maskerade: „Es ist keine abstrakte Tugend, jemand anders zu sein.“

Genau solche dialektischen Wendungen vermisst man dort, wo „Narzissmus“ zur Letztbegründung hochstilisiert wird. In seinem nächste Woche erscheinenden Buch „Die narzisstische Gesellschaft“ sieht der beliebte Mainstream-Psychologe Hans-Joachim Maaz in jeder individuellen und gesellschaftlichen Pathologie den Narzissmus am Werk: Finanzkrise, Atomkrise, Nationalsozialismus, Helmut Schmidts Nikotinsucht – an allem ist er schuld. Ausgerechnet von der angeblich unnarzisstischen Piratenpartei erhofft sich Maaz einen Ausweg aus dem „narzisstischen Korsett“.

Diesen Wunsch wird sie ihm kaum erfüllen. Denn was steckt anderes hinter dem Gerede über Liquid Democracy und die Verflüssigung aller Verhältnisse als die verkappte Sehnsucht nach der Rückkehr zur schönen Symbiose im Fruchtwasser – also zu einem Zustand vor der narzisstischen Urkränkung (Geburt) und vor dem Erscheinen des Gesetzes (Vater)? Das Ausleben von Allmachtsfantasien wie einst im pränatalen und präödipalen Idyll: Nichts anderes wollen die Piraten mit ihrer flüssigen Demokratie jedem ermöglichen, der meint, eine Meinung zu haben. Die Piraten: Partei des demokratischen Narzissmus.

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Politikwissenschaftler, seit 2022 Referatsleiter im Leitungsstab der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Autor für verschiedene Publikationen. Er schrieb von 2009 bis 2016 die monatliche taz-Kolumne "Bestellen und Versenden", seither freier taz-Autor. Themen: Popmusik, Theorie, Ideologiekritik.

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