Leberhaken des Lebens

KÖRPERKINO Jacques Audiard findet für „Der Geschmack von Rost und Knochen“ die passenden Bilder zur Inszenierung einer unromantischen Beziehung zwischen einem haftentlassenen Vater und einer Wal-Trainerin

VON BIRGIT GLOMBITZA

Ein Mann und ein Kind. Ali, Ende dreißig, und Sam, fünf Jahre. Wie ausgespuckt stehen sie nebeneinander. Irgendwo im Norden Frankreichs. Sie setzen sich in Bewegung. Grundlos eilig und ohne ein Wort. Ali war im Knast, warum, erfahren wir nicht, auch nicht, was mit Sams Mutter, die ihr Kind als Drogenkurier missbraucht haben soll, geschehen ist. Vater und Sohn. Ihre Gemeinsamkeiten sind auf die Instinkte reduziert. Sie haben kein Geld, bekommen Hunger. Im Zug essen sie, was sie unter den Sitzen finden. Alis Schwester Anna nimmt die beiden in Antibes in Empfang. Auch sie fremdelt. Sei es wegen Alis Tat oder einfach wegen der langen Zeit, die sie ihn nicht gesehen hat. Anna hat schließlich als Kassiererin mit Doppelschichten, eigener Familie, eigenen Überlebenskämpfen genug zu tun. So kreisen die Figuren wie abstoßende Pole umeinander.

Den Anlasser runtertreten

Ali (Matthias Schoenarts) sitzt in seinem Körper wie andere in ihrem Auto. Zurück in der Freiheit, tappt er unsicher herum. Erst als er ein Moped in Gang bringt und den Anlasser rabiat heruntertritt, werden seine Bewegungen routiniert. Mit Maschinen kennt er sich besser aus. Und seinen Körper behandelt er auch wie eine, die regelmäßig rennen, essen oder ficken muss. Mit Lust hat das nichts zu tun. Nur mit einer übergroßen Taubheit, die all diese Figuren in Jacques Audiards zweitem großartigem Film in Folge (davor: „Un Prophet“) befallen hat.

Auch Stéphanie (Marion Cotillard). Eine selbst- und körperbewusste Wal-Trainerin, die mit nur einer Geste die Körpermassive der Orkas dirigiert. Sie liebt es, zu dröhnendem Diskopop im Aquadome zu stehen, die Hände in die Luft zu strecken und auf die aufschießenden schwarz-weißen Ellipsen zu warten. Bis eines Tages etwas schiefgeht. Die Natur vergisst die Dressur und tut, was sie eben tun muss. Stéphanie treibt im Wasser wie in einer embryonalen Ursuppe. Umspült von biomorphen Fetzen und einer Wolke aus Blut. Ali hat sie einmal als Türsteher in einer Disko kennengelernt. Da war sie noch intakt und stark.

Jetzt nach dem Unfall, bei dem sie beide Beine, ihren Freund und ihren Job verloren hat, ruft sie ihn an. Auch sie behandelt er wie eine Körpermaschine, die gelegentlich Licht und Wasser, Essen und Sex braucht. Und das ist absurderweise genau das, was Stéphanie wieder ins Leben zurückholt. Ohne Mitleid schiebt Ali sie zum Strand, ins Meer. Später ins Bett, damit sie weiß, ob „es“ noch geht. Genau dieses Ungerührte und Unverbindliche ist das Einzige, was sie ertragen kann. Eine Pragmatik purer Lebenserhaltung. Sie begleitet ihn zu illegalen, regellosen Kämpfen, findet Gefallen an der reinen Brutalität, der kriminellen Enthemmung und den rohen Überlebensinstinkten. Geprügelte, geschundene, aufgepumpte Körper, die aus nichts anderem zu bestehen scheinen als aus Schmerz und Wut. Sie wird seine Managerin. Und als sie ein Auto kauft und mit ihm in die Männerwelt aus Schweiß und Blut, Erniedrigungen und Triumph reist, erleben beide eine Art Bonnie-und-Clyde-Moment. Für ein paar Sekunden schweben sie, gleiten durchs Leben, das zum ersten Mal leicht geht. Einen Tag, einen Abend. Da haut Ali in der Disko mit einer anderen ab.

Jaques Audiard ist der Regisseur eines ungeheuer physischen Kinos. Schon in „Un Prophet“ (2009) entschied sich alles über die Anordnung der Körper im Raum, in der Gefängniszelle oder beim Hofgang. Verrat, Machtwechsel, Morde. In „Der Geschmack von Rost und Knochen“ fokussiert Audiard zwei gegensätzliche Körpersysteme. Dysfunktional, zerstückelt, weiblich, liebend versus trainiert, komplett, männlich, zerstörend.

Gegensätzliche Spielweise

Klug verkörpert von zwei Schauspielern, die – aus absolut gegensätzlichen Spielweisen kommend – sich in der Schnittmenge ihres minimalsten und seines exaltiertesten Ausdrucks treffen. Sein Körperspiel wird von ihrer zurückkehrenden Empfindsamkeiten durchbrochen, ihre mimische Andeutung von seiner physischen Wucht. Vielleicht wundert man sich auch deswegen nicht lange über Cottilards verlorene Unterschenkel, bestaunt nicht die digitalen Stümpfe oder die Karbonprothesen, die ihr den Kosenamen „Robocop“ einbringen. Man hätte das alles auch geglaubt, wenn man zurückgebundene Glieder oder Bodydoubles ausgemacht hätte. Ganz einfach, weil Audiards Kino von einer so großen Unbedingtheit und Klarheit ist. Auch die Brutalität, die er zeigt, hat immer etwas Zwangsläufiges. Sie entsteht nicht aus einer Zeigelust an berstenden Bildern, sondern liegt im Drive der Protagonisten oder den Leberhaken des Lebens begründet. Das bewahrt den Film und seine Geschichte vorm Trash und verspielten Überdrehtheiten. Und das, obwohl die reine Storyline – Orka-Trainerin verliert bei Show beide Beine, verliebt sich in boxenden Ex-Knacki und triumphiert bei illegalen Verhau-Spektakeln als seine Managerin – zur skurrilen Spaßigkeit geradezu verführt.

Spezifische Dumpfheit

In „Der Geschmack von Rost und Knochen“ gibt es eine ganz spezifische Dumpfheit, die sich ein paar Mal über die Tonspur legt. An diesen Stellen scheint der Film selbst zum tauben Körper zu werden, der von innen horcht, ganz in sich absinkt und mit laut krachenden Außengeräuschen wieder auftaucht. Wie ein Wal aus der Tiefe, der zu Katie-Perry-Gekreische durch die Oberfläche bricht. Wie Ali, wenn er die isolierenden Kopfhörer nach dem Joggen abnimmt. Oder wie die Lkw-Plane, die plötzlich ins Bild lärmt, als alles verloren scheint und die Wege sich trennen. Nach diesen akustischen Schnittstellen donnert die Wirklichkeit um so klarer über die Figuren herein, schlägt sie aus jeder Dämmung ins Überscharfe und viel zu Helle. Und als Stéphanie die ersten Sonnenstrahlen wieder in die Augen lässt, blinzelt der Film mit ihr ins Tageslicht. Ohne falsche Rührung, so sachlich und ungeschminkt wie Cottilards poriges, kalkweißes Gesicht in genau diesem Moment. Und so resolut und unromantisch wie Ali, der ihren Körper kurz darauf wie ein Boot zu Wasser lässt. Im Meer beginnt sie sich wieder zu bewegen, verliert ihre Scham, stößt das hässliche T-Shirt ab und schwimmt schließlich in großen Zügen hinaus. Eine Fischmenschmaschine. Aber eine, die wenigstens in diesem Moment gluckst vor Glück.

■ „Der Geschmack von Rost und Knochen“. Regie: Jacques Audiard. Mit Marion Cotillard, Matthias Schoenaerts u. a. Frankreich/Belgien 2012, 127 Min.