Neues Album von Tocotronic: Als die rechte Hand eliminiert wurde

„Wie wir leben wollen“ heißt das neue Album von Tocotronic. Es ist ein Rundum-Sorgenfalten-Paket der Schattenseite des Lebens.

Wo andere Stärke markieren, huldigen sie lieber der Schwäche: Tocotronic. Bild: Michael Petersohn

„Im Keller“ steht an Platz zwei der 99 Thesen, die Tocotronic ihrem neuen Album vorangestellt haben. Diese 99 Thesen fassen einzelne Schlagworte aus den Texten der 17 Songs zusammen. Platz drei bleibt „Auf dem Grund des Swimmingpools“ reserviert, „Chloroformiert“ liegt auf der Acht, „Unter dem Sand“ auf der Zehn.

Ganz schön abseitige Schlagworte für ein Album, das „Wie wir leben wollen“ heißt, finden Sie nicht? Als Frage stellen Tocotronic das Wie im Titel auch gar nicht. Sie lösen für dieses existenzialistische Puzzle alle Abgründe des Daseins mit auf, erklären sie vom Unterbewusstsein her, sozusagen als Rundum-Sorgenfalten-Paket der Schattenseite des Lebens.

Dieser Groschen fällt aber erst später. Zunächst bleibt Tocotronic eine Band in der archetypischen Rockbesetzung Gesang, zwei Gitarren, Bass und Schlagzeug. Der Gesang Dirk von Lowtzows ist präsent wie eh und je. Aber endlich einmal haben sich Tocotronic drumherum ein gewagteres Soundgewand verpassen lassen, ihrem Produzenten Moses Schneider sei Dank.

Aufnahmen mit Vintage-Equipment

Aufgenommen wurde „Wie wir leben wollen“ in einem Studio am ehemaligen Berliner Flughafen Tempelhof, das mit Vintage-Equipment ausgestattet ist, auf einer alten Vierspurbandmaschine, verlängert mit Hallgeräten, die aus weit zurückliegenden Pop-Epochen stammen. Gemixt wurde auf einem 9-Kanal-Mischpult Marke Deutsche Grammophon.

„Wir mussten daher bereits vor der Aufnahme eine Soundarchitektur erstellen“, erklärt Tocotronic-Sänger und -Gitarrist Dirk von Lowtzow im Interview. „Unsere Instrumente hatten jeweils nur eine Spur zur Verfügung, dieses Klangbild blieb das Gerüst der Aufnahme. Bei früheren Alben haben wir quasi live aufgenommen und den Raum als Instrument genutzt. Da lehnten wir uns an die Unmittelbarkeit der Bühnen-Situation an, was uns sinnvoll erschien, auch weil es mit dem gewachsenen Stellenwert von Konzerten korrespondiert hat. Diesmal haben wir den Raum durch viele Overdubs ersetzt.“

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So ist eine Wall of Sound aufgetürmt, deren Wucht Tocotronic hörbar wohltut. Sie hat den Musikern in puncto Songwriting und Arrangement zu größerer Finesse und damit zu mehr künstlerischer Freiheit verholfen. Zu fantastisch mäandernden Songs und Hooklines, die im Gedächtnis hängen bleiben wie Flusen in einem Sieb, und zu einem gigantischen Hall, der Musik und Texte in Watte packt. Ähnlich dem entrückten Shoegaze-Entwurf der britischen Stone Roses auf ihrem Debütalbum oder den Feedback-Loops von My Bloody Valentine.

„Wie wir leben wollen“ entwickelt Dialektik aus Wärme und Distanz, die von den Texten und ihrer Mischung aus Apokalypse und Zärtlichkeit weitertransportiert wird.

Spiel mit Sprache

„Ich will täglich anders heißen / Alle Preise sollen winken / Ich will im Swimmingpool ertrinken“ („Auf dem Pfad der Dämmerung“). Von Lowtzow sagt, beim Songwriting interessiere ihn das Spannungsverhältnis aus Konvention und der Ausweitung selbiger. Wenn er an einem Text herumpuzzelt, soll er auch aufgehen. Für „Wie wir leben wollen“ ist sein Spiel mit Sprache freier geworden und zugleich konziser.

Die Karriere: Gegründet als Trio in Hamburg, 1993, ursprünglich den Bands der sogenannten Hamburger Schule zugerechnet. Komplettiert seit 2000 vom US-amerikanischen Gitarristen Rick McPhail.

Das Album: „Wie wir leben wollen“ (Vertigo Berlin/Universal Music), das zehnte Studioalbum von Tocotronic, erscheint am 25. Januar. Das dritte Doppelalbum in der Bandgeschichte nach „K.O.O.K.“ und „Tocotronic“ wird von der Band als ebenso bedeutsamer Schritt angesehen.

Die Tour: 27. Januar „Lido“ Berlin, 28. Januar „Thalia Theater“ Hamburg, 1. Februar „FZW“ Dortmund; wird im März fortgesetzt.

Von Lowtzow spielt mit dem Glamour und der Unsterblichkeit von Stars, inszeniert Showbusiness als Hindernisrennen. „Im Keller wartet schon die Version / die mich dann ersetzt / Wenn man sie wachsen lässt“ („Im Keller“). Er macht sich Gedanken über Viren, die sich in Körpern eingenistet haben, um die tägliche Dosis Koma, auf die sein Text-Ich der Liebe wegen verzichten möchte. „Ich will high sein und doch / Auf dem Boden kleben“ („Ich will für dich nüchtern bleiben“).

Zum unverwechselbaren Klangbild kam die Band durch eine Reduktion. „Mit meiner rechten Hand schreibe ich alle Texte und mit ihr spielte ich bis jetzt diese Schrammel-Riffs. Ihre Bewegung nahm auch das Schlagzeug auf. Diesmal haben wir meine rechte Hand aus dem Sound eliminiert“, erklärt von Lowtzow. Und das hat sich gelohnt, denn so unbehaust seine Ichs und Wirs in den Texten von „Wie wir leben wollen“ erscheinen, Gitarren, Drums und Bass sitzen nun immer am richtigen Platz.

Gitarrist Rick McPhail bestätigt: „Wir haben zum ersten Mal mit akustischen Gitarren gearbeitet und mit einer anderen Stimmung, National Tuning. Dirks Gitarre spielt jeweils eine Oktave höher. Alle Klangelemente sind so geschichtet, dass jeder von uns einen Frequenzbereich hat.“

Selbstkritischer und ironischer

Für von Lowtzows Texte entstand mehr Gestaltungsraum. Sie sind selbstkritischer und ironischer geworden. „So komme ich mir auch vor“, sagt der Sänger. „Die Texte werden von uns lektoriert, aber in der Grundanlage ging es bei den 17 Songs des Albums stärker um mich. Wie lässt sich das Ich verhandeln? Wie kann ich von mir erzählen, ohne die Leute zu belästigen?“

Bei „Chloroform“ beispielsweise, das gemütlich countryesk mit Tamburin und Pedal-Steel-Gitarre stampft, und rückwärtslaufenden Instrumenten-Spuren deklamiert von Lowtzow wie eine halbwache Figur aus einem J.-G.-Ballard-Roman „Sei meine Vertretung / Werde verantwortlich / Geliebte Unterbietung / Zensiere mich“.

Eher hysterisch chansonesk dagegen „Vulgäre Verse“, bei dem er sich, während Schlagzeuger Arne Zank gleichmäßig im Dreivierteltakt rudert, um Kopf und Kragen singt. „Als lebender Leichnam glaub ich daran / The Show must go on.“ Diese Fixierung setzt sich in dem von Stephanie von Beauvais inszenierten Videoclip von „Auf dem Pfad der Dämmerung“ fort: Ein Mädchen wehrt sich gegen Vampire, die es an einer Oberschule aussaugen wollen.

Tocotronic hängen am Leben

„Der Tod rückt näher. Wir werden älter“, erklärt von Lowtzow zur Todesthematik, die in sechs der 17 Songs auftaucht. Tocotronic hängen am Leben. „Durch Leidensgeschichten von Angehörigen wird man mit so was konfrontiert. Daher ist ,Wie wir leben wollen‘ ein totales Undergroundalbum geworden, wir sind für unsere Songs im wahrsten Sinne unter die Erde gegangen.“ Showbusiness als Bühne für Untotes: Tocotronic scheinen in einem Zwischenreich leben zu wollen. Wo andere Stärke markieren, huldigen sie lieber der Schwäche, fühlen sich weder Mainstream noch Untergrund zugehörig.

„Ich finde es künstlerisch wichtig, dass wir bei Festivals wie Rock am Ring vorkommen, obwohl mir das Berliner Hebbel-Theater persönlich näher liegt. Finanziell können wir es uns als Band gar nicht leisten, zu Rock am Ring Nein zu sagen“, sagt Dirk von Lowtzow. Aber er dreht die Perspektive vom weißen rockenden Mann im Song „Exil“ lieber um. „Ich bin ein weißer heterosexueller Mann / Du kannst mich abschieben, wenn du willst.“

In welcher Form kommen Tocotronic dann zurück von ihrem Ausflug unter die Erde? Platz eins der 99 Tocotronic-Thesen von „Wie wir leben wollen“ gebührt „Als Zeichentrickgestalten“.

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