Rote Schuhe in Martys Träumen

AUSSTELLUNG Seine Leidenschaft für Geschichte, seine Liebe zu New York und sein fetischhaftes Verhältnis zum Kino: Das Museum für Film und Fernsehen würdigt in einer großen Schau den Regisseur Martin Scorsese

Scorsese versteht es, auf Vergangenes zurückzugreifen und gleichzeitig vorauszublicken

VON ANDREAS BUSCHE

Der erste Raum einer Ausstellung hat eine ähnliche Funktion wie die Eröffnungsszene eines Films. Beide gewähren Zutritt zu einer anderen Wirklichkeit, offenbaren ein vielschichtiges Geflecht aus künstlerischen und gesellschaftlichen Positionen. Im Idealfall beinhaltet dieser erste Eindruck schon das Konzentrat einer Weltanschauung, die sich im Werk in verschiedensten Facetten wiederfindet.

Die Kuratoren der Martin-Scorsese-Ausstellung im Museum für Film und Fernsehen haben sich für eine eher konfrontative Einführung in das Oeuvre des amerikanischen Regisseurs entschieden – jedenfalls sollte man sich beim Betreten der Räumlichkeiten auf etwas gefasst machen. Die Arbeit, die auf die Wand direkt gegenüber des Eingangs projiziert ist, zeigt einen jungen Mann beim Rasieren. „The Big Shave“ heißt der sechsminütige Kurzfilm von 1967, der, obwohl er inzwischen zu den kanonischen Arbeiten Scorseses zählt, auf den unvorbereiteten Besucher zunächst verstörend wirken muss. In dem frühen Experiment steigert sich das Ritual der morgendlichen Rasur zu einem veritablen Blutbad, das mit einem sauberen Schnitt durch die Kehle endet.

Was im ersten Moment wie plakative Schockrhetorik anmutet, erweist sich bei genauerer Betrachtung als durchaus treffende Charakterisierung eines Gesamtwerks, das bis in die Gegenwart hinein von Gewalt und gebrochenen Spiegel- und Männlichkeitsbildern geprägt ist. Während man noch gebannt auf das Blut starrt, das zu einer verrauschten Jazz-Melodie ins Waschbecken schießt, hört man aus dem Nebenraum Robert de Niro vor Schmerz aufbrüllen (eine Szene aus „Wie ein wilder Stier“). „The Big Shave“ war Ende der Sechziger Scorseses Kommentar zum Vietnamkrieg. Der Filma war auch eine drastische Metapher, die bereits erkennen ließ, dass sich hier jemand mit großer Kraftanstrengung an seinem Land abarbeitete.

Ein Land, das Scorsese als Einwandererkind immer durch die Augen eines Außenstehenden betrachtete. Erst das Kino sollte sein Bild von den USA nachhaltig schärfen. Die Geschichte vom schwächlichen, asthmakranken Jungen, dessen stärkster Bezug zur Welt viele Jahre das Kino blieb, ist heute Legende. Auch die Berliner Ausstellung kommt nicht ohne diese Anekdote aus. Es ist den Kuratoren Kristina Jaspers und Nils Warnecke jedoch gelungen, diese Selbststilisierung anhand von Oberbegriffen wie „Familie“, „Brüder“, „Männer und Frauen“ und „New York“ in den Arbeiten Scorseses systematisch aufzuarbeiten.

So wird aus einer Reliquienschau, an die eine Ausstellung über einen Filmstar zwangsläufig erinnert, eine berührende Reise durch gelebte Geschichte. Denn in seinen Filmen verschränken sich einerseits auf magische Weise biografische Züge und Kino-Erinnerungen. Gleichzeitig versteht es Scorsese aber auch wie kein anderer Regisseur, auf Vergangenes zurückzugreifen und gleichzeitig vorauszublicken.

Dieses Geschichtsbewusstsein zieht sich wie ein roter Faden durch die Berliner Ausstellung. Zahllose Exponate – persönliche Schriftdokumente, Kostüme, Set-Fotografien – aber auch Filmausschnitte erzählen von Scorseses Leidenschaft, Geschichte lebendig zu machen; wenn er etwa die Titelsequenzen von „Kap der Angst“ und „Casino“ von Saul Bass und dessen Frau Elaine gestalten ließ oder für den Soundtrack von „Taxi Driver“ den Hitchcock-Komponisten Bernard Herrmann engagierte. Scorseses Verhältnis zum Kino hat bisweilen etwas Fetischhaftes, weswegen sich die Objektfixierung, die die Ausstellung stellenweise betreibt, als durchaus legitimer Zugang zum Werk erweist. So ist in Berlin unter anderem das erste Storyboard des damals 11-jährigen Scorsese zu sehen. Heimliches Schmuckstück der Ausstellung aber sind die in einer Vitrine aufgebahrten Ballerinas aus Michael Powells Tanzfilm „Die Roten Schuhe“, dessen knallige Technicolor-Farben den jungen Marty bis in die Träume verfolgten.

Seine geradezu spirituelle Verhaftung in der Geschichte und seine Liebe zu New York haben in der Romanverfilmung „Die Zeit der Unschuld“, eine der schönsten filmischen Rekonstruktion des historischen New York, zu einer kongenialen Form gefunden. In der Ausstellung befindet sich ein Schriftstück der American-Heritage-Gesellschaft, die Scorsese für seinen Beitrag zum Erhalt des historischen Old Merchant‘s House, in dem „Die Zeit der Unschuld“ teilweise gedreht wurde, dankt.

Scorseses konservatorische Bemühungen waren nicht auf die Filmgeschichte beschränkt. Seine Filme sind ein ständiger Kampf gegen das Verschwinden. In keinem Ausstellungsstück wird dies deutlicher als in dem Modell von Manhattan, das das Herzstück der „New York“-Sektion darstellt. Monitore zeigen Szenen aus Scorsese New-York-Filmen, die mit realen Straßenecken verlinkt sind. Scorsese kartografiert die Stadt und dokumentiert eine Vergangenheit, deren Bilder im Gedächtnis des Kinos gegenwärtig bleiben.

■ Martin Scorsese, bis 12. Mai, Di.–So. 10–18 Uhr, Do. 10–20 Uhr. Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen, Potsdamer Straße 2