„Eine Depression ist kein Diabetes“

GRAUE ZELLEN Der Pharmazeut Felix Hasler, Autor des Buchs „Neuromythologie“, über den Hype um die Hirnforschung, unerfüllte Versprechen der biologischen Psychiatrie und die Grenzen der Computersimulation

■ Der Autor: geb. 1965 in Liechtenstein, promovierte 1997 an der Universität Bern in Pharmazie und war danach an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich in der Halluzinogenforschung tätig. Er lebt heute in Berlin und arbeitet an der Berlin School of Mind and Brain der Humboldt Universität.

■ Das Buch: „Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung“. Transcript Verlag, Bielefeld 2012.

INTERVIEW PETER SCHNEIDER

sonntaz: Herr Hasler, der Lausanner Neurowissenschaftler Henry Markram hat für sein „Human Brain Project“, eine Computersimulation des menschlichen Gehirns, bei der EU Forschungsgelder in Höhe von einer Milliarde Euro beantragt. Dass er das Geld in diesem Jahr erhält, ist durchaus wahrscheinlich. Für einen Mythos ziemlich viel Geld, oder?

Felix Hasler: Allerdings! Zumal die Chancen, aus diesem Projekt praktisch relevantes oder gar revolutionäres Wissen über das Gehirn zu gewinnen, äußerst gering sind. Schon allein die schier unglaubliche Plastizität unseres Gehirns spricht gegen einen Erfolg des Unternehmens. Um dem gerecht zu werden, müsste sich die Simulation permanent selbst umgestalten, und zwar nach Gesetzmäßigkeiten, die man überhaupt noch nicht kennt. Es sind ja noch nicht einmal die fundamentalen Regeln der Gehirnphysiologie entschlüsselt. Wie soll etwas simuliert werden, das man gar nicht versteht? Nur weil man einen Supercomputer mit Unmengen an Daten füttert, entsteht daraus noch lange keine neue Theorie des Gehirns.

Zu Markrams Versprechen gehört nun aber, dass aufgrund der immensen Menge der eingefütterten Einzelergebnisse zum Funktionieren des Gehirns und der ungeheuren Rechnerleistung, die zur Verarbeitung dieser Daten zur Verfügung steht, das Modell eine Eigendynamik gewinnt, die Ergebnisse hervorbringt, die zuvor nicht absehbar waren. Das Ganze sei mehr als seine Teile.

Wenn man schon auf ein Rechenwunder aus der Maschine hofft, sollten wenigstens die Ausgangsdaten zuverlässig sein. Aber gerade in der Hirnforschung sind diese ganz oft widersprüchlich oder nicht reproduzierbar. Diese Verkaufsrhetorik erinnert doch verdächtig an das „Human Genome Project“. „Im Buch des Lebens lesen“, hieß es in den 1980er Jahren, würde zwangsläufig die Türen zu revolutionär neuen Behandlungsmethoden aufstoßen. Herausgekommen ist erstaunlich wenig. Bis heute gibt es keine einzige Gentherapiemethode – für irgendeine Erkrankung. Das Human Brain Project könnte ähnlich episch scheitern.

Die Ankündigung, psychiatrische Erkrankungen auf molekularer Ebene zu erklären und Behandlungsmethoden im Modell simulieren zu können, ist also auch bloß mit viel heißer Luft aufgewärmter kalter Kaffee?

Hinter solch vollmundigen Ankündigungen stecken doch völlig unhaltbare Annahmen. Eine mechanismusbasierte Entwicklung von Psychopharmaka versucht auch die pharmazeutische Industrie schon seit Jahrzehnten ohne Erfolg. Spätestens in den klinischen Tests an Patienten sind noch alle Psychopharmaka gescheitert, die aufgrund neurowissenschaftlicher Hypothesen entwickelt wurden. Alles, was man heute in der Psychiatrie an Medikamenten verabreicht – und das bekanntermaßen nicht zu knapp –, basiert auf Zufallsentdeckungen. Seit mehr als 30 Jahren gibt es hier keine Innovation mehr. Und überhaupt – kann denn ein Computer depressiv werden?

Wenn er es könnte, wäre das ein Riesenerfolg. Ersetzen Sie nicht mit Ihren Einwänden den guten alten Kulturpessimismus durch einen ebenso unfruchtbaren Wissenschafts- oder genauer: Neuropessismismus?

Dem gegenwärtig grassierenden Neurohype etwas entgegenzuhalten, kann doch nicht schaden! Das Human Brain Project ist ja nur das schillerndste und grandioseste unter all den Neuroübertreibungen der letzten Jahre. Die Neurokarte wird einfach arg überstrapaziert. Und ich bin ja nicht der Erste, der sagt: Sorry, Leute, aber eine Gehirnsimulation im Computer wird nie und nimmer eine Testplattform für Medikamente gegen Depressionen oder Schizophrenie hergeben. Dazu müsste die Computersimulation ja ein leidensfähiges Bewusstsein entwickeln. Ein toller, altbekannter Science-Fiction-Stoff – aber nicht mehr.

Welches Vorgehen wäre denn erfolgversprechender?

Eine berechtigte Frage, zugegeben, die ich leider auch nicht beantworten kann. Es wäre aber schon viel gewonnen, wenn man damit aufhören würde, so zu tun, als könne man das Gehirn als isoliertes, kulturunabhängiges Objekt im Labor untersuchen und dadurch herausfinden, was das Menschsein wirklich ausmacht. Das ist doch Unsinn.

Ist der Haken des Neurohypes einfach nur, dass biologische, kulturelle und soziale Dimensionen über einen Leisten geschlagen werden? Beruht die Neuromythologie lediglich auf einer inzwischen allzu gängig gewordenen Kategorienverwechslung, von der Ende der 1940er Jahre der Ordinary-Language-Philosoph Gilbert Ryle im seinem Buch „The Concept of Mind“ schreibt?

Da würde ich nicht widersprechen. Synapsen und Neuronen kennen weder Moral noch Liebe oder Freiheit. Das sind doch kulturelle Errungenschaften oder soziale Konzepte, für die sich gar kein biologisches Korrelat finden lässt – und zwar ganz unabhängig vom Entwicklungsstand der Technologie. Wahrscheinlich sucht man im Gehirn einfach am falschen Ort, wenn man dort nach einem biologischen Substrat für, sagen wir, eine moralische Entscheidung fahndet. Die Hirnforschung ist ja immer dann erfolgreich, wenn sie das Gehirn nicht als mysteriöses Sonderorgan, als Produktionsort von Bewusstsein und Verhalten behandelt. Zum Beispiel bei neurologischen Erkrankungen, wie etwa Epilepsie oder Parkinson. Bei solchen Vorgängen ist das Gehirn selbstverständlich genau der richtige Untersuchungsort. Und dann gibt es auch echten Erkenntnisgewinn.

Wie erklären Sie sich die Tendenz, Psychiatrie und Psychotherapie in Neurologie zu verwandeln? Oder anders gefragt: kulturelle Ätiologien in biochemische zu verwandeln?

Vertreter der heute so populären biologischen Psychiatrie sind davon überzeugt, dass sich auch unsere komplexe Psyche letztendlich verlustfrei auf rein biologische Gesetzmäßigkeiten zurückführen lässt. Die Naturwissenschaft hat klare Gesetze, und wenn sich die Psyche darauf reduzieren ließe, würde sie zu einem verstehbaren, berechenbaren und – wenn was schiefläuft – zu einem präzise behandelbaren Gegenstand. Toll – aber so läuft es leider nicht. Eine Depression ist eben kein Diabetes, auch wenn dies immer behauptet wird. Dazu kommt, dass ja auch mit den klassisch „seelenzentrierten“ Therapieansätzen, zum Beispiel der Psychoanalyse, schwere psychische Störungen wie ein Schizophrenie nicht in den Griff zu bekommen sind. Wenn die auf unbewiesenen Hypothesen und Zukunftsversprechungen beruhende biologische Psychiatrie nicht bald echte Erfolge für den klinischen Alltag vorzuweisen hat, könnte das Pendel aber schon bald wieder in die andere Richtung, also hin zur Psyche ausschlagen. Anzeichen dafür gibt es bereits.

Der Widerspruch zwischen der Behauptung der Fortschritte medizinischer Behandlung im Hinblick auf psychische Störungen einerseits und der gleichzeitigen Feststellung einer dramatischen Zunahme solcher Krankheiten ist frappant, scheint aber niemanden zu stören.

Ganz erstaunlich, nicht wahr? Seit Jahrzehnten erklärt uns insbesondere die pharmazeutische Industrie, dass die Medizin im biologischen Verständnis psychischer Störungen enorme Fortschritte gemacht hätte und dass man Depressionen heute so gut verstehen und so zielgerichtet therapieren könne wie den eben erwähnten Diabetes. Und parallel dazu nehmen die Diagnosen von Depression und Angst jedes Jahr weiter zu. Selbst wenn unsere Lebensbedingungen – aus was für Gründen auch immer – zu mehr psychischen Störungen führen, müsste das erwähnte erfolgreiche Therapieangebot doch dazu führen, die Probleme in den Griff zu bekommen. Doch das ist nicht der Fall – psychisch kranken Menschen geht es heute nicht besser als vor 30 oder 40 Jahren, zu Zeiten vor der umfassenden Biologisierung der Psychiatrie. Von Ausnahmen wie der Akutbehandlung von Schizophrenien einmal abgesehen. In keinem anderen Gebiet der Medizin ist der Graben zwischen therapeutischen Versprechungen und den tatsächlichen Auswirkung auf den klinischen Alltag so groß. Ein klarer Fall von „Neuroautorität“, dass solche Widersprüche offenbar kaum wahrgenommen werden.

Peter Schneider ist Psychoanalytiker, Buchautor, Kolumnist und Herausgeber der Sphères-Essayreihe in Zürich