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: Lieben, weinen, sterben

„Hafen im Nebel“ – Marcel Carnés Klassiker aus dem Jahr 1938 – ist bei „Arthaus Retrospektive“ neu erschienen

In dunkler Nacht auf der Straße steht Jean (Jean Gabin) plötzlich und wie aus dem Nichts im Scheinwerferkegel eines Wagens. Jean trägt die Uniform eines Soldaten, aber man begreift bald: Er ist Deserteur. Der Fahrer nimmt ihn mit und ist wütend, als Jean vom Beifahrersitz das Steuer herumreißt, um zu verhindern, dass sie einen streunenden Hund überfahren. Der Hund wird es Jean danken und ihm bis zuletzt folgen, als Allegorie tierischer Treue.

Anders als in der Romanvorlage Pierre Mac Orlans, geht es in Marcel Carnés „Hafen im Nebel“ aus dem Jahr 1938 nach Le Havre, nicht nach Paris. In Le Havre liegt der Hafen im Nebel. Überhaupt ist es meist düster, draußen im Freien, mehr aber noch drinnen in den Menschen: einer, der seine ganze Ökonomie nach dem Alkohol ausrichtet; ein Maler, dem die Zunge schwer ist vom Überdruss am Leben; ein Mann namens Zabel, zynisch und gierig und in Händel verwickelt mit einem feigen Ganoven – aber auch die junge und schöne Nelly (Michèle Morgan) in ihrem Regenmantel, Mündel von Zabel, verlassen von Maurice, den sie nicht liebte, der nun vermisst und dessen Leiche später im Hafen an Land gespült wird.

Poetischer Realismus hat man dazu gesagt. In Wahrheit ist das eine ganz schön künstliche, aber gerade in ihrer Künstlichkeit wieder ergreifende Grau-in-Grau-Malerei. Es ist in den Momenten, in denen man wie durch Nebelfetzen hindurch klarer sieht, aber auch ein von leicht hysterischer Schwermut entfärbtes Existenzgepose. Die Räume sind nicht realistisch, sondern vom legendären Alexandre Trauner gebaut. Die Kamera bewegt sich eher träge durch die verlassen-schäbige Studiolandschaft und erinnert sich dabei mit den Augen von Eugen Schüfftan an das späte Weimarer Kino.

Situiert ist das Geschehen nur in übertragenem Sinn. Der historische Hintergrund des Jahrs 1938 verschwimmt sehr im Nebel. Zwar ist die Zeit der Handlung als Gegenwart datiert, man merkt es den Akteuren und den Bezügen, in die sie gesetzt sind, aber kaum an. Das Leiden, die Passivität, der Fatalismus, die Aggression, der Zynismus, die Gier, das kommt aus tieferen Quellen oder eher wohl doch aus einer tief empfundenen Verschwommenheit im Denken und Fühlen, in der sich das Publikum des Jahrs 1938 nur zu gern wiedererkannte.

„Hafen im Nebel“ wurde wohl gerade seiner traumverlorenen Düsternis wegen ein Riesenerfolg, den Carné sieben Jahre später mit „Kinder des Olymp“ noch toppte. Aber da war dieses Lebensgefühl dann vollends in sauren Kitsch umgekippt.

Man sieht und erlebt hier weniger Menschen als (oft allerdings hinreißende) ausführende Organe eines Melancholieprogramms, das Jacques Préverts Dialoge manchmal arg redundant formulieren. Geliebt werden muss, geweint werden muss und gestorben werden muss auch. Dazwischen setzt es Ohrfeigen, es wird Autoscooter gefahren, und der Hund, der die Daseinsschwere des Menschen nicht kennt, steht wieder in Großaufnahme im Bild.

Am Ende fällt mehr als ein Schuss. Im letzten Atemzug noch ein Kuss. Das Schiff nach Venezuela legt ab. Aufs Alleinzurückbleiben wollte „Hafen im Nebel“ von Anfang an hinaus.

EKKEHARD KNÖRER